Russland:Youtube, wir müssen reden!

Kamikadzedead Blogger Russland

Iwanows Rede wurde in wenigen Tagen von mehr als einer Million Menschen auf Youtube angeklickt.

(Foto: Screenshot)

Einer der bekanntesten Blogger Russlands protestiert gegen die politisch motivierte Sperrung von Videos. Dass sich im Internet eine Gegenöffentlichkeit professionalisiert, macht den Kreml zunehmend nervös.

Von Julian Hans

Das Video, das der Blogger mit dem Pseudonym Kamikadzedead in der vergangenen Woche auf Youtube veröffentlichte, fiel in jeder Hinsicht aus dem Rahmen. Kamikadzedead heißt mit bürgerlichem Namen Dmitrij Iwanow, ist 30 Jahre alt, und die meisten seiner mehr als eine Million Abonnenten auf der Videoplattform sind nach seiner Aussage Schüler und Jugendliche. Aber die waren ausnahmsweise nicht die Adressaten seines Auftritts, sondern die Gründer der Videoplattform selbst - Youtube, wir müssen reden!

"Sehr geehrter Herr Hurley, sehr geehrter Herr Chen, sehr geehrter Herr Karim", beginnt Iwanow auf Englisch und entschuldigt sich gleich für seinen russischen Akzent. "Youtube in Russland dient Putin", ist sein Vorwurf an die Amerikaner Chad Hurley, Steve Chen und Jawed Karim, die die Plattform 2005 gegründet haben. Allzu eilfertig komme das Russland-Büro des US-Konzerns Anträgen nach, Beiträge zu sperren, klagt Iwanow. Und er meint, ein Muster zu erkennen: Blockiert würden vor allem Beiträge, die den Präsidenten, die Regierung, die Polizei oder Justiz kritisierten.

Youtube und der Mutterkonzern Google akzeptierten leichtfertig die sehr großzügige Auslegung des Begriffs Extremismus durch die russischen Behörden, findet Iwanow. Schon eine Kritik an der Willkür von Polizisten oder dem Geheimdienst werde als "Aufruf zu Hass und Gewalt" eingestuft. Derweil blieben Auftritte Kreml-treuer Politiker und Kommentatoren von der Zensur unberührt, selbst wenn sie ganz offensichtlich zu Gewalt und Diskriminierung aufriefen. Etwa der Rechtspopulist Wladimir Schirinowskij, Dauergast in allen politischen Talkshows, der im Fernsehen bei verschiedenen Gelegenheiten dazu aufrief, Atombomben auf London und Ankara zu werfen oder die Vereinigten Staaten "in radioaktive Asche" zu verwandeln. Oder Wladimir Solowjow, als Moderator dauerpräsent auf allen Kanälen der Staatsholding WGTRK, der vor einigen Wochen auf Radio Westi Demonstranten als "die üblichen zwei Prozent Scheiße" verunglimpfte. Die Staatssender veröffentlichen ihre Sendungen seit einigen Jahren gleich nach der Ausstrahlung auch auf Youtube. Gesperrt wurde solche staatlich geförderte hate speech aber noch nie.

Die Sperr- und Löschanträge der russischen Behörden sind 2016 um 478 Prozent gestiegen

Blockiert werden stattdessen Beiträge mit viel harmloserem Inhalt. Als Beispiel nennt Iwanow ein Video des Kanals "Sein oder . . ." in dem der anonyme Autor darlegt, es sei nicht allein Wladimir Putins Verdienst, dass Russland nach der Krise der 1990-er einen Aufschwung erlebt habe. Zuerst habe Youtube nur das eine Video gesperrt, Minuten später den ganzen Kanal. Vorausgegangen sei der Sperrung eine Flut von Beschwerden, die offenbar von organisierten Trollen und von so genannten Bots ausgingen, also von Programmen, die vortäuschen, echte Nutzer zu sein.

Aus der offiziellen Statistik des Unternehmens geht hervor, dass Google im vergangenen Jahr mehr als 13 000 Sperr- und Löschanträge der russischen Behörden erhalten hat - ein Anstieg von 478 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mehr als die Hälfte aller Zensur-Anträge weltweit kam demnach aus Moskau. 74 Prozent davon wurde stattgegeben. Die durch Bots und Trolle ausgelösten Sperrungen sind dabei gar nicht mitgezählt.

Nawalny geht um 20.18 Uhr auf Sendung - 2018 will er Putin als Präsident ablösen

Iwanows siebenminütige Rede in Englisch mit russischen Untertiteln haben in wenigen Tagen mehr als eine Million Menschen angeklickt. Der Kanal "Sein oder . . ." wurde bald darauf wieder freigeschaltet. Die Antwort des Mutterkonzerns fiel gleichwohl dünn aus: Google habe klar formulierte Prinzipien, nach denen Inhalte blockiert oder gelöscht würden, teilte das Unternehmen mit. Die Statistiken dazu seien öffentlich einsehbar. Dieses Statement hätte in Inhalt und Formulierung auch von einem Kreml-Sprecher kommen können, spottete Iwanow.

Youtube hat sich in Russland besonders für Schüler und Jugendliche zu einer Alternative zum ideologischen Einerlei aus Patriotismus und Biedermeier entwickelt, das von den staatlich kontrollierten Fernsehsendern verbreitet wird. Keiner hat das so gut erkannt wie der Oppositionelle Alexej Nawalny - den allerdings seine große Fangemeinde im Netz vor Zensur schützt. Seit er seine Recherchen über Korruption an der Spitze des Staates in unterhaltsamen Videos präsentiert statt in langen Texten, hat er eine große Fangemeinde in der Generation, die während der 17-jährigen Regierungszeit von Wladimir Putin aufgewachsen ist.

Angebunden an seine Stiftung zum Kampf gegen die Korruption hat Nawalny in wenigen Monaten ein regelrechtes alternatives Medien-Imperium aufgezogen. Der Tag auf Nawalny Live beginnt Montags bis Freitags um neun Uhr mit der einstündigen Sendung Kaktus. Sobol Ljubow, die Juristin der Stiftung, bespricht das Tagesgeschehen mit prominenten Gästen der Opposition und von Organisationen, die dem Kreml nicht nach dem Mund reden.

Dienstagsabends werden in der Sendung Die Jura-Fakultät Rechtsfragen behandelt. Zwei Stunden später geht die Cloud auf Sendung - dort dreht sich alles um das Internet in Russland, verschlüsselte Kommunikation und neue Versuche des Staates, die Freiheit im Netz einzuschränken. Am Mittwoch geht es in Es kommt noch schlimmer um Polizei, Justiz und Menschenrechte.

Zwischen einigen Zehntausend und Hunderttausend verfolgen die Livestreams. Wenn Nawalny donnerstags um 20.18 Uhr selbst auf Sendung geht - ein Hinweis auf die Präsidentenwahlen 2018, für die Nawalny kandidieren will - sind es bis zu einer halben Million Zuschauer. Weit entfernt von den zig Millionen, die täglich die Staatssender einschalten, aber offenbar genug, um den Kreml nervös zu machen.

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