ARD-Themenabend:Terror als Populisten-Porno

Die Zuschauer wurden im Film "Terror" dazu verleitet, die Menschenwürde zu verraten. Wie die ARD sie in die Amtsanmaßung und in ein Fehlurteil getrieben hat.

Von Heribert Prantl

Der ARD-Themenabend zu Terror - Ihr Urteil hat sein Thema nicht verfehlt; er hat es verstörend gut getroffen; er hat das Thema so gut erklärt, wie man es besser kaum erklären kann - fesselnd und bedrückend zugleich.

Der Fernsehfilm nach dem Theaterstück Ferdinand von Schirachs hat die Fragen so gestellt, dass sie das Herz zugeschnürt, den Kopf gemartert und das Gewissen geschüttelt haben: War es Recht oder Unrecht, ein von Terroristen entführtes Verkehrsflugzeug abzuschießen? Hat sich der Todesschütze, Kampfpilot der Bundeswehr, schuldig gemacht? Muss er bestraft werden, und wenn ja, wie? Was sagt das Bundesverfassungsgericht, was der Befehl, was das Gewissen?

Eineinhalb Stunden lang hat der Film Gründe und Abgründe einer tragischen Entscheidung ausgeleuchtet.

Zu schlechter Letzt aber, nach den Plädoyers von Staatsanwältin und Verteidiger, haben Ferdinand von Schirach (der unter Mitwirkung von Regisseur Lars Kraume und Produzent Oliver Berben auch das Drehbuch geschrieben hat) und die ARD das Thema und den Film in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken missbraucht, um des billigen Plots und des interaktiven Effekts willen.

Nur angeblich nämlich hat der Themenabend die Zuschauer besonders ernst genommen, indem er sie zu Laienrichtern erklärte und zu einer Abstimmung drängte. Abgesehen von der unanständig kurzen Zeit, in der sie ihr Urteil fällen sollten, verschwammen hier die fiktionale und die reale Ebene.

Den Zuschauer der bloßen Spannung wegen genarrt

Durch die simultane Befragung der Zuschauer in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde aus der Fiktion eine Art reale Volksbefragung. Diese Konfusion wurde vom Moderator Frank Plasberg bedient, als er die Kernfrage an den Schweizer Kollegen stellte: Darf man das Fernsehpublikum abstimmen lassen? Und dann ergänzte er: Die Schweiz mache solche Volksabstimmungen ja oft.

Nur angeblich hat der Themenabend den über "schuldig" oder "unschuldig" abstimmenden Zuschauern die Informationen zur Verfügung gestellt, die sie für ihr Urteil brauchten.

Schirach und die ARD haben fälschlicherweise so getan, als gäbe es beim Urteilsspruch nur die Alternative Freispruch oder lebenslang. Schirach und die ARD haben der bloßen Spannung wegen die Zuschauer genarrt, sie haben sie zu einer Entscheidung genötigt, die es in Wahrheit so nicht gibt. Sie haben so getan, als müsse man das Recht verraten, um ihm Genüge zu tun: Sie haben dem Zuschauer verschwiegen, dass das Recht einen Täter schuldig sprechen und ihn trotzdem milde oder gar nicht bestrafen kann.

Auf diese Weise könnte die Straftat zwar als Straftat bezeichnet, aber die tragische Situation des Täters berücksichtigt werden. Vom übergesetzlichen Notstand war im Film zwar dauernd die Rede, aber die Möglichkeiten, die das Recht in so einem Fall gibt, wurden nicht berücksichtigt.

Schirach und die ARD haben ihre Zuschauer auf diese Weise verleitet, das wichtigste Rechtsprinzip, die Menschenwürde, zu verraten. Schirach und die ARD haben dem Vorurteil Vorschub geleistet, dass man den Terror nur am Recht und seinen Kernprinzipien vorbei bekämpfen, aber dann die extralegalen Mittel per Urteil zum Recht erklären könne.

Das ist nicht Rechtserziehung, das ist Erziehung zum Rechtsmissbrauch. Das ist Anleitung zu einem Denken, wonach man das Recht gegen den Terror nur mit Unrecht bekämpfen könne. Mit der Methode Schirach & ARD kann man auch Waterboarding zu einer notwendigen, schuld- und straflosen Terrorbekämpfungs-Handlung machen.

Der Film warf klug ethische Fragen auf, erklärte die Zuschauer aber zugleich zu Deppen

Mit der Methode Schirach & ARD kann man am nächsten Themenabend auch einen Folterer als schuldlos freisprechen. Schirach und die ARD haben aus dem Thema Terror einen Populisten-Porno gemacht.

Der fiktive Fall, über den die Zuschauer zu urteilen hatten - 86,9 Prozent plädierten dann auf "unschuldig", nur 13,1 auf "schuldig" - geht so: Der Bundeswehrmajor Lars Koch, 32 Jahre alt, verheiratet, ein Kind, hat eigenmächtig und befehlswidrig die Entscheidung getroffen, eine von Terroristen gekaperte Lufthansa-Maschine auf dem Flug von Berlin nach München abzuschießen; er hat so 164 Menschen getötet. Er tat dies, so sagt er, um zu verhindern, dass das Flugzeug in die voll besetzte Allianz-Arena gelenkt wird; er habe die 70 000 Menschen im Stadion retten wollen.

Es handelt sich, wie gesagt, um einen fiktiven, aber viel diskutierten Fall. Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach hat diese Fiktion zu einem erfolgreichen Theaterstück verarbeitet.

Was wäre, wenn der Terrorist von den Passagieren doch noch hätte überwältigt werden können?

Man erlebt darin den Prozess vor einer "16. Großen Strafkammer als Schwurgericht". Schirach lässt dort die Frage verhandeln, ob es sich um 164-fachen Mord handelt. Nicht zur Sprache kommt, ob er statt wegen Mordes wegen Totschlags angeklagt hätte werden müssen.

Zur Sprache kommt, ob womöglich auch ein anderer Ablauf der Katastrophe denkbar gewesen wäre - und ob das eine Rolle spielt: Was wäre, wenn der Terrorist von den Passagieren doch noch hätte überwältigt werden können? Was wäre, wenn der Terrorflug der Passagiermaschine ins voll besetzte Stadion irgendwie doch hätte vermieden werden können? Und was, wenn das Stadion hätte geräumt werden können?

Das soll den Zuschauern das Urteil "unschuldig" und ihr Herz dabei ein wenig schwerer machen, das soll ihnen das Gefühl vermitteln, dass man sich und seine Skrupel überwinden müsse, um den Terror zu bekämpfen.

Darf man Leben retten, indem man Leben nimmt?

Die ARD hat aus Schirachs Theaterstück einen Film und diesen Film am Montagabend zum Ausgangspunkt eines Themenabends mit Abstimmung, Volksurteil und Diskussion gemacht.

Im Fernsehfilm sah man durch die Fenster des Gerichtssaals den Berliner Reichstag, über dessen Westportal bekanntlich die Aufschrift steht "Dem deutschen Volke".

Nach den Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger durfte das Volk in Gestalt der Zuschauer entscheiden, wie die Sache ausgehen soll, es durfte, wie es in der ARD-Ankündigung hieß, abstimmen "nicht nur über den Ausgang eines Fernsehfilms, sondern über das Schicksal eines Menschen: schuldig oder nicht schuldig".

Das Gericht wurde so zum Volksgerichtshof im Wortsinn. Weil die Zuschauerschöffen mehrheitlich auf unschuldig plädierten, sprach der Richter dann in einem verquer begründeten Urteil den Angeklagten frei. Und anschließend diskutierte Frank Plasberg in seiner Talkshow Hart aber fair über den Fall und das Urteil.

Das alles war perfekt gespielt: Burghart Klaußner mimte eindrucksvoll den Vorsitzenden Richter; Martina Gedeck gab eine kluge und tiefschürfende Staatsanwältin; der Kampfpilot (Florian David Fitz) war jung und schön und sein Verteidiger (Lars Eidinger) ein wenig nervig, was das Bild des Angeklagten als eines einsamen Heroen noch verstärkte.

Dieser Themenabend war nicht "Hart aber fair", sondern hart und unfair

Aus den Gerichtsreden und zwei Zeugenbefragungen entwickelte sich eine Lehrstunde zu ethischen Grundfragen: Darf ein Flugzeug zur Verhinderung einer womöglich noch größeren Katastrophe abgeschossen werden? Darf man Leben retten, indem man Leben nimmt? Gilt hier, zumindest dann, wenn die faktische Situation völlig klar ist, der Satz vom kleineren Übel? Darf man Leben gegen Leben abwägen, hier also 164 Leben gegen zigtausend Leben? Haben die Flugzeugpassagiere womöglich eine Solidarpflicht mit den Lebenden dergestalt, dass sie, weil ohnehin dem Tod geweiht, auf ihr Leben verzichten müssen? Müssen sich die Insassen wie Soldaten im Krieg für das Ganze aufopfern? Durfte sich der Angeklagte deswegen über den klaren Befehl der Verteidigungsministerin und über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinwegsetzen, weil sein Gewissen ihm das so befahl?

All diese Fragen hat der Film klug diskutiert. Gleichwohl war dieser Themenabend nicht "Hart aber fair", sondern hart und unfair: Er war unfair gegenüber dem Recht und unfair gegenüber dem Zuschauer.

Unfair gegenüber dem Recht war er, weil er die Rechtslage primitiver dargestellt hat, als sie ist. Der Film tat so, als seien die Zuschauer jetzt Blitz-Schöffen und als hätten sie jetzt, ganz ohne Berufsrichter, allein zu urteilen. Der Film belehrte die Zuschauer in den Plädoyers sehr fein und mit diversen Zitaten aus der Philosophie Immanuel Kants; gleichzeitig behandelte er die Zuschauer wie Deppen, weil er so tat, als gäbe es nur zwei Möglichkeiten und nichts dazwischen.

Es gibt die Möglichkeit, Schuld festzustellen, und gleichwohl nicht zu bestrafen

Das aber war falsch und das ist und bleibt falsch. Es gibt die Möglichkeit, die tragische Schuld des Angeklagten festzustellen - und ihn gleichwohl milde oder nicht zu bestrafen. Um der Spannung willen hat der Themenabend das gar nicht thematisiert.

Und so lockte und nötigte man "das Volk" zu dem Votum, dass man halt im Extremfall, im Kampf gegen den Terror, Rechtsprinzipien beiseiteschieben müsse, um das Recht und die Menschen zu verteidigen: Im Kampf gegen den Terror sei jedes extralegale Mittel legal.

Plasbergs Talkshow war nicht in der Lage und auch nicht des Willens, das wieder gerade zu rücken. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum fand nicht die richtigen Worte, um gegen den angeblich gesunden Menschenverstand überzeugend anzureden und die These eines ehemaligen Kampfpiloten zu entkräften, dass das Grundgesetz in globalisierten Zeiten nicht mehr genüge.

Theologin Petra Bahr entlarvte die Alternative zwischen Schuld und Unschuld als falsch

Weil Baum den Trotzigen und den persönlich Beleidigten spielte, seine Arme unwillig verschränkte und sich in seiner Lebensleistung geschmälert fühlte, vergriff er sich auch im Ton.

Die Verteidigung des Rechts übernahm die Theologin Petra Bahr, indem sie die Alternative zwischen Schuld und Unschuld als falsch entlarvte. Sie machte deutlich, dass aus so einer Situation niemand mit weißer Weste hervorgeht - und dass der gespielte Fall zeigt, wie jemand bewusst Schuld auf sich nimmt, aber darum am Ende nicht unschuldig ist.

Man hätte sich eine andere Besetzung der Diskussion gewünscht: einen Verfassungsrichter, der profund erklärt hätte, warum das Gericht im Jahr 2006 das Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig erklärte; dieses Gesetz hatte ja die Rechtsgrundlage dafür sein sollen, ein von Terroristen entführtes Flugzeug abzuschießen.

Der Staat darf nicht gemein sein, auch nicht, um noch größere Gemeinheiten zu verhindern

Man hätte sich auch den Polizeibeamten Wolfgang Daschner in der Sendung gewünscht. Er hatte seinerzeit das Leben des entführten elfjährigen Jakob von Metzler zu retten versucht, indem er dem mutmaßlichen Entführer Folter androhte; da war der Junge, was Daschner nicht wusste, schon tot. Das Gericht hat Daschner damals schuldig gesprochen, aber ihn vor dem Makel der Strafe bewahrt; es hat eine "Verwarnung mit Strafvorbehalt" ausgesprochen.

Und man hätte sich einen Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Talkgast gewünscht. Dieses Gericht hat eine Antwort auf die deutschen Diskussionen über Daschner formuliert, in denen es damals viel Verständnis für die Folterandrohung gab.

Das Gericht sagte: Nein, der Staat darf nicht gemein sein, auch nicht, um noch größere Gemeinheiten zu verhindern. Er darf einem Verdächtigen nicht den Arm ausrenken, auf dass dieser das Versteck seines Opfers hinausschreit. Er darf dem Beschuldigten keine Stromschläge versetzen, um Wissen aus ihm herauszukitzeln. Er darf das auch nicht androhen. Es gibt keinen einzigen Grund, der je Folter rechtfertigen könnte.

Es ist gut, dass es Gerichte gibt, die das so klar sagen. Es ist gut, dass es keinen Volksgerichtshof gibt. Der klügste Satz des Diskussionsabends bei Plasberg kam am Schluss von der Theologin Petra Bahr, die sich der Abstimmung über Schuld und Unschuld verweigerte mit der Begründung: Ich lege Wert darauf, dass ich die Amtsanmaßung an diesem Abend nicht begehe.

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