Zugunglück bei Bad Aibling:"Nach der Katastrophe folgt die Schockstarre"

Gerd Reimann, Notfallpsychologe

Gerd Reimann, Notfallpsychologe aus Potsdam

(Foto: privat)

Ein Notfallpsychologe erklärt, was in Überlebenden eines Unglücks wie bei Bad Aibling vorgeht. Und warum auch das soziale Umfeld einbezogen werden muss.

Von Violetta Simon

Gerd Reimann ist seit 25 Jahren bundesweit als Notfallpsychologe im Einsatz und betreut Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Im Interview erklärt der Potsdamer, was in den Überlebenden nach dem Zugunglück bei Bad Aibling vorgeht und wie es Betroffenen gelingt, nach der Katastrophe jemals wieder einen Zug zu besteigen.

SZ.de: Bei dem Zugunglück in Oberbayern sind mindestens neun Menschen ums Leben gekommen, mehr als 100 Personen wurden verletzt. Was geht in jemandem vor, der auf Rettung wartet?

Gerd Reimann: Züge und Flugzeuge gehören zu den sichersten Verkehrsmitteln. Deshalb kommt so ein Unglück für alle Beteiligten besonders überraschend, die Belastungsreaktion ist immens. Vor allem bei den Verletzten, die eingequetscht sind, Schmerzen haben und auf Rettung warten. Man hofft auf die Befreiung, sieht sogar die Rettungskräfte, die versuchen, einen rauszuholen, und kann nichts tun als warten. Diese Situation wird von Betroffenen im Nachhinein als außerordentlich belastend erlebt, das spielt auch eine Rolle für die spätere Verarbeitung.

In welchem seelischen Zustand sind die Menschen nach so einer Katastrophe?

Es folgt eine Art Schockstarre, die sind desorientiert, haben Zeit- und Raumgefühl verloren. Sie können ihre Gedanken und Gefühle nicht steuern, sich nicht konzentrieren, sind nicht Herr über ihre Handlungen. Die Psyche will nicht wahrhaben, was da passiert ist. Man versucht sich einzureden, es sei nicht real, nur ein böser Traum. Dieser Zustand kann Stunden dauern. In dieser ersten Phase ist es wichtig, dass neben den Rettungsdiensten auch psychosoziale Kräfte vor Ort sind.

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Rettungskräfte im Einsatz bei Bad Aibling.

(Foto: Getty Images)

Was brauchen die Betroffenen unmittelbar nach dem Unfall am nötigsten?

Generell kann man sagen, dass nach einem Zugunglück zunächst die medizinische Versorgung und die vitalen Bedürfnisse der Überlebenden im Vordergrund stehen. So genannte Ersthelfer - das können Bahnmitarbeiter aber auch Seelsorger sein - organisieren warme Decken, Essen und Getränke, kümmern sich darum, dass Personen nach Hause gebracht werden und stehen als Ansprechpartner zur Verfügung. Wenn das abgedeckt ist, kümmern sich Notfallpsychologen um die seelische Betreuung. Dabei darf man aber nicht die körperlich Unversehrten aus den Augen verlieren, genau wie die Angehörigen, die panisch auf Informationen warten - und schließlich die Einsatzkräfte, die an der Unfallstelle mit belastenden Situationen konfrontiert werden. Auch diese Menschen benötigen psychologische Unterstützung.

Was geht in einem Menschen vor, der ein Unglück, bei dem andere gestorben sind, ohne größere Verletzungen überlebt?

Nach der Schockphase, wenn die Klarheit zurückkommt und die Leugnungsphase vorüber ist, werden viele Überlebende von Gedanken und Gefühlen regelrecht geflutet. Ihnen wird klar, was alles hätte passieren können. Dann taucht die Frage auf: "Warum sind andere tot oder verletzt und ich nicht?" Im Extremfall kommt es zu Schuldgefühlen, hinzu kommen Zweifel, ob man anderen hätte helfen können, sich anders hätte verhalten müssen. Was natürlich unmöglich ist in so einem Chaos, wenn alles durcheinanderfliegt. Doch die Psyche fragt sich: "Was hast du getan, dass dir das passiert ist?" Weil wir denken, alles was geschieht, hat mit uns zu tun. Weil wir dazu erzogen werden, die Kontrolle über unser Leben zu behalten. Haben wir eine schlechte Note in der Schule, dann deshalb, weil wir zu faul waren. Also machen wir etwas dagegen, lernen mehr oder nehmen Nachhilfe.

Häufig machen sich Betroffene und Angehörige Vorwürfe, warum sie nicht in den nächsten Zug gestiegen sind oder ihr Kind überredet haben, den früheren Zug zu nehmen.

Dieses Phänomen gehört in das System der Verleugnung. Man will die Katastrophe nicht wahrhaben. Der Grund dafür ist, dass man versucht, dieser Verkettung unglücklicher Umstände, diesem Zufall, der zu einer schweren Verletzung oder zum Tod geführt hat, einen Sinn zu geben. Das ist aber unmöglich, denn es ergibt keinen Sinn. Das wiederum führt zu Fragen wie "Warum gerade ich?" Doch auch darauf gibt es keine vernünftige Antwort.

Wie kann man den Überlebenden dabei helfen, sich selbst zu verzeihen?

Indem man dafür sorgt, dass er selbst darauf kommt, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen dem eigenen Verhalten und dem Ereignis. Durch nondirekte, also offene W-Fragen, bringen wir den Betroffenen dazu, sich selbst die Antworten zu geben. So erkennt er, dass es sich um Fehlgedanken handelt, und lässt eine neue Betrachtungsweise zu.

Was ist mit Angehörigen und Hinterbliebenen im sozialen Umfeld?

Gerade Angehörige, die noch nicht herausgefunden haben, ob ihr Kind oder Ehegatte unter den Opfern ist, gehören zur Zielgruppe von Ersthelfern. Die Leute machen sich bis zum Schluss Hoffnung und sind einer immensen Belastung ausgesetzt. Daher sollte die Bahn auch Angehörigen Gespräche anbieten und sie möglichst gut informieren. Außer, wenn es um die Überbringung einer Todesnachricht geht - die ist Aufgabe der Polizei. Doch auch hier sind Notfallpsychologen oder Ersthelfer als Begleitung gefragt, um den ersten Schock abzufangen. Für den Fall, dass Kinder unter den Opfern waren, sollten die Lehrer der zugehörigen Klassen sich Unterstützung holen. Denn auch die Lehrer und Mitschüler sind in so einem Fall betroffen und brauchen Hilfe im Umgang mit dem Unglück. Dann ist es gut, wenn man die Schüler einfach mal reden und Fragen stellen lässt, damit sie das Geschehene begreifen. Oft hilft es auch, an die Unglücksstelle zu gehen, um Abschied zu nehmen.

Wie geht es weiter mit den Überlebenden des Zugunglücks - sind sie auf sich gestellt, sobald sie zuhause ankommen?

Keineswegs. Je nach Bedarf können sie in den folgenden Wochen psychologische Betreuung in Anspruch nehmen. Wie Menschen so eine Katastrophe verarbeiten, ist unterschiedlich. Hier zeichnen sich drei Gruppen ab: Manche Überlebende erlangen recht schnell ihre Orientierung zurück und können sich gut selbst helfen. Feuerwehrmänner, die solche Abläufe kennen, haben beispielsweise ganz gute Ressourcen, um in solchen Extremsituationen klarzukommen. Wir sprechen dann von so genannten "Selbstheilern". Dann gibt es die "Wechsler", die man erst in den Tagen danach erkennt: Sie verarbeiten das Ereignis unter der Bedingung, dass sie in der nächsten Zeit keine weitere psychische Belastung zu verkraften haben. Und schließlich die "Risikogruppe", die etwa 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht und die erst mit Unterstützung eines Notfallpsychologen wieder zur Normalität zurückfindet.

Wie sieht diese Unterstützung aus, sprechen Sie von einer Therapie?

Eine Therapie eignet sich in dem Fall nicht - außer, die Person war bereits an einer Depression oder Schizophrenie erkrankt oder hat schon einmal eine ähnliche traumatische Belastung erlebt. In der Regel sind Überlebende eines solchen Unglücks aber nicht krank, sondern belastet. In dieser Phase kann man auch keine Diagnose stellen, man spricht daher nicht von Symptomen, sondern von Reaktionen wie zum Beispiel Schlafstörungen, Albträume, Flashbacks. In dem Fall werden die Überlebenden von einem Notfallpsychologen betreut. Diese Fachleute bieten Gespräche an und prüfen, welche Ressourcen der Person zur Verfügung stehen: Wie ist das soziale Umfeld, auf welche Erfahrung kann die Person zurückgreifen, kann sie dem Ereignis etwas Positives entgegensetzen? Nur wenn Schlafstörungen und andere Symptome nicht abflauen, leitet der Psychologe über in eine Traumatherapie. Sonst kann die Reaktion zu einem chronischen Symptom mutieren, zum Beispiel zu permanentem Vermeidungsverhalten.

In dem Fall wäre es wohl so, dass der Betroffene nie wieder einen Zug besteigt. Wie schafft man es, die Kontrolle über sein Leben zurückzubekommen?

Die Verweigerung ist zunächst ein Schutzreflex, der Betroffene in der ersten Phase entlasten soll. Doch wenn man der Vermeidung dauerhaft nachgibt, droht eine posttraumatische Belastungsstörung. Wir haben beobachtet, dass sich drei, vier Monate nach solchen Katastrophen Suizide häufen. Deshalb ist es wichtig, dass der Notfallpsychologe den Überlebenden in den Tagen nach der Katastrophe dabei unterstützt, das Erlebnis zu verarbeiten. Das geschieht durch wiederholte Gespräche über das Erlebte und andere Maßnahmen, die eine so genannte Habituation, also einen Gewöhnungseffekt, bewirken. So erreicht man, dass dem Ereignis die schmerzhafte Spitze genommen wird. Abschließend erfolgt ein so genanntes Reframing, das heißt, wir fragen: Was war gut daran, dass ich das erleben musste?

Mit Verlaub, aber wenn mein Sohn in dem Zug verunglückt wäre, was könnte an so einem Ereignis positiv sein?

Mir ist klar, dass es schwer ist, eine Antwort darauf zu finden. Aber dieser Ansatz bringt den Betroffenen dazu, aktiv nach Argumenten zu suchen, die ihm erlauben, das Ereignis in seinen Lebensplan zu integrieren. So wird eine Retraumatisierung vermieden, wie sie etwa bei Soldaten zu beobachten ist, die an einem harmlosen Grillabend durch den Geruch von verbranntem Fleischs geflasht werden. Oder bei Opfern von Überfällen, bei denen das Trauma durch ein bestimmtes Kleidungsstück reaktiviert wird. Es ist daher wichtig, dass nicht wir die Antwort geben, sondern sie der Betroffene von selbst findet. Und wenn es nur die Erkenntnis ist: "Das hätte auch mir passieren können. Seit ich das weiß, lebe ich viel intensiver." Das nennt man uminterpretieren.

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