Grundsatzurteil zur Sterbehilfe:Sterben und sterben lassen

Unter welchen Umständen muss ein Arzt einen Menschen nicht mehr am Leben erhalten? Das Urteil des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe ist ein Glücksfall für Ärzte und Patienten.

Charlotte Frank

Schon lange müssen Ärzte den Hippokratischen Eid nicht mehr schwören. Er ist altmodisch geworden, er verbietet das Operieren von Blasensteinen oder Abtreibungen. Er ist aber auch in einem Satz zweifelhaft geworden, der bis vor kurzem noch als unumstößlich galt: "Ich werde niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde." Der Satz ist nicht mehr klar, der Satz ist in die Grauzone gerutscht. Ja: Ein Arzt darf einen Patienten nicht töten. Aber wenn die moderne Medizin in der Lage ist, einen Körper über viele Jahre am Leben zu halten, dessen Geist längst tot ist, dann genügt dieser Satz des Hippokrates nicht mehr. Dann muss auch geregelt werden, unter welchen Umständen ein Arzt einen Menschen nicht mehr am Leben erhalten muss.

Grundsatzurteil zur Sterbehilfe: Der Bundesgerichtshof hat am 25. Juni 2010 ein Grundsatzurteil zur Sterbehilfe gefällt. Demnach ist der Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung nicht strafbar, wenn dies dem erklärten Willen des Patienten entspricht.

Der Bundesgerichtshof hat am 25. Juni 2010 ein Grundsatzurteil zur Sterbehilfe gefällt. Demnach ist der Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung nicht strafbar, wenn dies dem erklärten Willen des Patienten entspricht.

(Foto: AP)

Die Richter am Bundesgerichtshof (BGH) haben mit ihrem Grundsatzurteil vom Freitag einen Schritt hin zu dieser Klärung getan. Sie haben den Rechtsanwalt Wolfgang Putz vom Vorwurf der aktiven Sterbehilfe und des versuchten Totschlags freigesprochen. Das ist ein Glücksfall; für Putz natürlich, aber viel mehr noch für die Ärzte in Deutschland, für die Juristen, für die vielen Menschen, die nicht nur Angst vor dem Tod haben, sondern mehr noch vor dem Verlust ihrer Würde am Ende des Lebens.

Ein Jahr ist es her, da verurteilte das Landgericht Fulda Putz zu neun Monaten Haft auf Bewährung und 20000 Euro Strafe, weil er einer Mandantin geraten hatte, die Magensonde ihrer Mutter Erika K. durchzuschneiden. Diesem Rat war ein Kampf um Leben und Tod vorhergegangen: Das Heim kämpfte um das Leben der 77-Jährigen, um das Leben in ihrem Körper, genauer gesagt. Denn schon seit fünf Jahren lag Erika K. im Wachkoma. Eine Magensonde verhinderte, dass sie nicht schon längst gestorben war. In Gesprächen mit ihren Kindern hatte die Frau aber immer gesagt, dass sie so nicht vor sich hin vegetieren wolle; deshalb kämpften die Kinder nun um den Tod der Mutter. Als sie sich am Ziel wähnten, und die Sonde abgehängt wurde, entschied sich das Heim kurzfristig um. Erika K. kam zurück an den Schlauch. Da empfahl Putz den Griff zur Schere.

War das aktive Sterbehilfe, also Tötung auf Verlangen? Oder durfte hier eine Frau auf ihren Wunsch hin sterben, weil die lebenserhaltenden Maßnahmen endeten? Wann ist es richtig, einen Menschen am Leben zu erhalten, wann nicht?

Der BGH hat entschieden: Der Schnitt war ein zulässiger Behandlungsabbruch. Damit haben die Richter nicht nur Wolfgang Putz freigesprochen. Sie haben eine Antwort gewagt auf die schwierige Frage: Wo wird aus dem Sterbenlassen das Töten?

Das Dilemma der Ärzte

Wie dringend das geklärt werden musste, zeigt der Fall Putz: Das Landgericht erkannte zwar an, dass es rechtswidrig war, Erika K. gegen ihren Willen zu ernähren. Es hielt aber auch die Methode für strafbar, dieser Rechtswidrigkeit ein Ende zu setzen. Nicht nur Putz hielt dieses Urteil in seinen Widersprüchen für grotesk. Noch dringender zeigte den Klärungsbedarf aber das Dilemma der Ärzte: Seit Jahren ist unumstritten, dass kein Mensch gegen seinen Willen behandelt werden darf: Das ist Körperverletzung. Unumstritten ist aber auch, dass der mündlich geäußerte Wille eines Patienten bindend ist. Hat also jemand wie Erika K. bekundet, er wolle nicht an einer Magensonde enden, so war der Arzt in einer schwierigen Lage: Legte er trotzdem eine Sonde, machte er sich der Körperverletzung strafbar. Legte er keine Sonde und ließ den Patienten sterben, musste er fürchten, sich der Tötung strafbar zu machen.

Die Angst vor dem endlosen Sterben ist eine der großen Ängste in der Zeit der Apparatemedizin. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie verzweifelt ein Mensch sein muss, um der eigenen Mutter mit Hilfe einer Pflasterschere das Sterben zu ermöglichen. Die Deutsche Hospiz Stiftung hat dies eine "Wildwest-Methode" genannt; es war schiere Notwehr im Kampf um die Würde eines sterbenden Menschen.

Genau darin liegt der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen. Natürlich ist es ein aktiver Schritt, eine Schere an einen Plastikschlauch anzusetzen und diesen abzuschneiden. Nichts ist daran passiv. Und doch stellt sich die Frage: War der Schnitt die letzte Möglichkeit, sich Erika K.s Wunsch nach dem Tod nicht weiter in den Weg zu stellen? Wolfgang Putz und Erika K.'s Tochter wollten ja nicht das Leben der Wachkoma-Patientin beenden, weil sie eigenmächtig fanden, dass dieses Leben keinen Wert mehr hatte. Sie haben vielmehr Erika K. als ganzen Menschen gesehen, der nicht wollte, dass sein Körper ohne Geist weiterlebte.

Respekt vor dem Leben

Eine Tochter hat ihre Mutter sterben lassen. Und es ist gut, dass der BGH das auch so anerkannt hat: Der Anwalt hat ihr zur Seite gestanden, als es darum ging, den Willen der Mutter durchzusetzen, obwohl die sich nicht mehr selber äußern konnte. Er hat der Tochter geholfen, einem geliebten Menschen die letzte Strecke des Lebens zu erleichtern. Er hat sich eingesetzt für das, was man gemeinhin einen würdevollen Tod nennt.

Der Staatsanwalt in Fulda hat Wolfgang Putz vorgeworfen, er mache sich zum "Herrn über Leben und Tod", weil er den Tod von Erika K. ermöglichte. Der BGH hat dieses Argument umgedreht: Es macht sich auch der zum Herrn über Leben und Tod, der mit allen Mitteln für das Leben kämpft - selbst dann noch, wenn der Patient es nicht will und der Kampf aus medizinischer Sicht völlig aussichtslos ist. In dieser Lage das Sterben zuzulassen, bedeutet nicht, das Selbstbestimmungsrecht absolut zu setzen; das Urteil ist kein Schritt hin zur Erlaubnis der aktiven Sterbehilfe. Es bedeute vielmehr Respekt vor dem Leben, dessen letzte Phase das Sterben ist.

In Zeiten der modernen Medizin müssen viele Regeln neu geschrieben werden. Mit den zunehmenden medizinischen Möglichkeiten verschieben sich auch die juristischen und die ethischen Maßstäbe. Dann muss ein Rechtsstaat Antworten finden auf neue Situationen: dass Menschen am Sterben weniger die Schmerzen fürchten müssen als den Verlust der Achtung vor ihrer Person; dass sie ängstlich sagen "Ich will nicht an Maschinen enden", dass sie in ihrer Not Hilfe bei höchst zweifelhaften Sterbehilfe-Organisationen suchen wie dem Schweizer Verein Dignitas. Der Gesetzgeber hat im vergangenen Jahr einen wichtigen Schritt getan, indem er das Patientenverfügungsgesetz verabschiedet hat. Der BGH hat nun nachgezogen. Jetzt ist abschließend gesichert: Lebensschutz bedeutet nicht, den Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht abzusprechen, nicht einmal am Lebensende.

Das Wissen, sich durch Tun, aber auch durch Unterlassen schuldig machen zu können, würde ohne die Gnade Gottes zur Verzweiflung führen, hat der Theologe Dietrich Bonhoeffer einst gesagt. Womöglich trifft das nirgends so sehr zu wie in der modernen Medizin, wo die Grenzen zwischen Leben und Tod zerfließen.

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