J. D. Vance über:Hillbillies

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Nichts erinnert hier in San Francisco an Middletown, Ohio, die kaputte Industriestadt, in der Vance groß geworden ist, und über die er ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat.

Interview von Hubert Wetzel

Wäre da nicht der Nebel, könnte J.D. Vance von seinem Büro aus die Golden Gate Bridge sehen. Beton, Glas, dänische Möbel - nichts erinnert hier an Middletown, Ohio, die kaputte Industriestadt, in der Vance groß geworden ist, und über die er ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat.

SZ: Herr Vance, Sie haben ein Buch geschrieben, "Hillbilly Elegy", ein Klagelied also über den amerikanischen Hinterwäldler. Was ist ein Hillbilly, und warum muss man ihn betrauern?

J. D. Vance: Der Begriff "Hillbilly" meint ursprünglich einen Menschen, der aus den Appalachen stammt, zum Beispiel aus den Bergen von Kentucky wie meine Familie. Ein typischer Hillbilly stammt von schottisch-irischen Einwanderern ab, er ist weiß, arm, er arbeitet hart und ist durchaus ruppig. Ein Hillbilly scheut nicht davor zurück, ein paar Hiebe auszuteilen, wenn man ihn beleidigt. Millionen dieser Leute sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Süden der USA in den Mittelwesten gezogen, um dort in der Industrie, in den Fabriken und Stahlwerken zu arbeiten. Ich verwende den Begriff in meinem Buch daher für die gesamte untere weiße Arbeiterklasse im so genannten "Rostgürtel".

Inwiefern stecken diese Menschen in einer Krise?

Die Krise besteht darin, dass für diese Leute sehr, sehr wenig in die richtige Richtung geht. Die Wirtschaft funktioniert nicht mehr, es gibt kaum noch gut bezahlte Jobs in der Industrie. Die Familien funktionieren nicht mehr, die Zahl der Scheidungen steigt, ebenso Missbrauch, Gewalt, Chaos in den Familien. Es gibt eine Drogenepidemie, immer mehr Menschen werden abhängig von Heroin. Die Leute sind weniger gesund, sie sind übergewichtig, sie sterben früher. Die Krise ist also überall. Alles was wichtig ist, läuft falsch.

Warum?

Der Hauptgrund ist wohl die schlechte Wirtschaftslage im Rostgürtel. Die Industriejobs sind abgewandert, und es ist einfach nichts nachgekommen. In einem Ort wie meiner Heimatstadt, Middletown in Ohio, ist es sehr schwierig, als einfacher Arbeiter eine vernünftig bezahlte Stelle zu finden. Und Middletown ist noch gut dran, weil das Stahlwerk dort immerhin noch nicht völlig dichtgemacht hat. Aber es gibt in diesen alten Industrieorten praktisch keine Möglichkeiten für die Menschen voranzukommen. Das führt zu einer enormen Hoffnungslosigkeit und zu dem Gefühl, vom Rest der amerikanischen Gesellschaft abgehängt und entfremdet zu sein.

Sie hatten selbst eine sehr raue Kindheit und Jugend. Ihr Vater hat die Familie verlassen, Ihre Mutter hatte ständig wechselnde Freunde. Zu Hause wurde dauernd gebrüllt. Und Sie beschreiben auch ziemlich viel Gewalt. Ihre Großmutter hat einmal Ihren Großvater angezündet, der betrunken auf dem Sofa lag.

In der Tat, das hat sie.

Ist Gewalt Teil der Hillbilly-Kultur?

Nun, die Tatsache, dass die schottisch-irischen Einwanderer eher zu Gewalt neigen als andere Bevölkerungsgruppen, ist relativ gut belegt. Sie schreien mehr, und sie schlagen auch öfter zu. Und das ist Teil des Problems: Viele Familien sind ohnehin schon instabil. Aber vielleicht funktionieren sie gerade noch so, die Eltern lassen sich nicht scheiden, die Mutter motzt mit den Kindern rum, schlägt sie aber nicht. Dann kommt der wirtschaftliche Stress dazu - und alles geht den Bach runter.

Ihre Mutter ist drogenabhängig, sie nahm erst Schmerztabletten, dann Heroin. Welche Rolle spielen Drogen beim Niedergang der weißen Arbeiterschicht?

Das Drogenproblem ist größer, als ich es mir je vorgestellt hätte, und es wird immer schlimmer. Ich kenne Richter in der Gegend, die haben zum dritten, vierten Mal die gleiche Mutter vor sich, die Kinder sitzen als Zuhörer im Saal dabei. Entzug hat nichts geholfen, Haft hat nichts geholfen. Was macht man da? Wenn man mit Menschen redet, die zum ersten Mal Heroin nehmen, selbst mit Teenagern, dann sagen sie, sei seien deprimiert oder hätten Langeweile, oder sie müssen eben jeden Abend erleben, wie die Mutter von ihrem Freund verprügelt wird. Heroin ist auch eine Art Schmerzmittel, und sehr viele Leute dort leiden an großen emotionalen Schmerzen. Sie suchen nach etwas, das ein bisschen besser ist.

"Das Drogenproblem ist größer, als ich es mir je vorgestellt hätte", sagt J.D. Vance. (Foto: Timothy Archibald)

Ist es schlimmer, arm und weiß zu sein in Amerika, oder arm und schwarz?

In materieller Hinsicht geht es armen Schwarzen weit schlechter als armen Weißen. Der Unterschied ist, dass die Schwarzen zumeist doch mit etwas mehr Optimismus in die Zukunft schauen, während arme Weiße sehr viel zynischer sind.

Ihr Großvater, ein echter Hillbilly aus Kentucky, der nach Ohio ging, um dort in einem Stahlwerk zu arbeiten, war sein Leben lang Demokrat. Für ihn waren die Demokraten die Partei der Arbeiter. Haben die Demokraten Amerikas Arbeiter im Stich gelassen?

Ich glaube schon. Die Demokraten haben sich kulturell weit von der Arbeiterklasse entfernt. Es ist in der demokratischen Elite völlig üblich, herablassene Urteile über weiße Arbeiter zu fällen, ohne diese Menschen tatsächlich zu verstehen.

Hillary Clinton hat einen Teil dieser Leute als "die Jämmerlichen" bezeichnet, als Rassisten, Schwulenhasser und Fremdenfeinde, weil sie für Donald Trump sind.

Ganz genau. Und viele Leute spüren das, sie fühlen sich verurteilt und entfremdet von den Demokraten. Im Grunde aber haben beide Parteien, Demokraten und Republikaner, das Ausmaß der sozialen Krise nicht ernst genommen, in der die weiße Arbeiterklasse steckt. Spätestens seit Ende der Neunzigerjahre ist offensichtlich, dass diese Menschen schwer zu kämpfen haben. Aber die Politik hat eigentlich nichts getan, um ihnen zu helfen. Man kann ja bequem in San Francisco oder Washington leben und denken, es laufe alles prima. Die Botschaft der Politiker an die weiße Arbeiterklasse war immer nur: Wir brauchen breiten Wohlstand. Auch ich finde breiten Wohlstand gut, aber das löst eben nicht alle Probleme.

Würde Amerika heute über die Probleme der weißen Arbeiter reden, wenn nicht der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump das Thema so in den Vordergrund geschoben hätte?

Sicher nicht in dem Umfang, wie jetzt darüber geredet wird. Trump hat eine Debatte über politische Dogmen erzwungen, zum Beispiel den Freihandel, die früher niemand infrage stellen wollte, weil die Eliten in beiden Parteien einfach nicht wussten, wie ein großer Teil der Betroffenen lebt. Es gibt die These, dass die große politische Trennlinie in Amerika nicht mehr zwischen Linken und Rechten verläuft, sondern zwischen den Menschen, die von der Globalisierung profitieren, und denen, die darunter leiden.

Wo stehen Sie? Sie stammen aus der alten Arbeiterwelt, aber Sie leben heute als Silicon-Valley-Investor in San Francisco. Sie profitieren im weitesten Sinne von Entwicklungen, die dort, wo Sie herkommen, zerstörerisch wirken.

Ich fühle mich manchmal schon ein bisschen schuldig - die Schuld des Überlebenden sozusagen. Ich will nicht nur hier in San Francisco herumsitzen und mich nicht darum kümmern, was in meiner Heimat passiert. Ich bin leider etwas abgekoppelt von den Menschen daheim, aber sie sind immer noch die Menschen, die ich am liebsten um mich habe. Ich bin wie ein Fisch auf dem Trockenen, sowohl hier in San Francisco als auch zu Hause in Ohio. Aber dort bin ich es weniger.

Andererseits haben Sie sich aus dem Elend in Middletown herausgekämpft. Sie waren bei der Marineinfanterie, Sie haben hart gearbeitet und in Yale studiert. Sie haben offenbar einige richtige Entscheidungen in Ihrem Leben getroffen, die Freunde von Ihnen aus Ohio vielleicht nicht getroffen haben. Statt Schuld könnten Sie auch Stolz empfinden.

Ich würde sicher nie sagen, dass die Leute, die in Ohio feststecken, selbst schuld sind. Ich halte mich nicht für besser als sie. Ich bin schon sehr stolz auf mein Leben, aber ich bin auch stolz darauf, wo ich herkomme, und auf die Familie, aus der ich stamme. Ich bin ein Republikaner und ein sehr altmodischer Konservativer. Ich glaube, dass die Familie und die Gemeinschaft sehr wichtig sind. Ich schaue nicht auf mein Leben und sage, alles Erreichte habe ich ganz alleine erreicht. Ich glaube eher, dass meine Schulen, meine Lehrer, meine Großeltern, die Marines, alle diese Menschen und Institutionen mir Chancen gegeben haben. Als ich 22 war, die Marineinfanterie hinter mir hatte und mit dem Studium anfing, da hatte ich diese Arroganz und war stolz, weg zu sein aus Middletown. Aber heute fühle ich mich nicht mehr so, als sei ich der Stadt und den Menschen dort entkommen. Sondern ich schulde ihnen Dank dafür, dass ich hier bin.

Das ist interessant, denn als guter Republikaner müssten Sie ja eigentlich der Ansicht sein, dass individuelle Leistung und Verantwortung der Schlüssel zu einem Leben in Wohlstand sind, nicht der Einfluss einer öffentlichen Schule.

Ja, stimmt, aber ich teile diese Sicht nicht. Individuelle Leistung und individuelle Entscheidungen bringen einen nur bis zu einem bestimmten Punkt. Republikaner übersehen oft, wie wichtig Gemeinschaften sind, Familien, Nachbarn. Die Regierung ist nicht die Lösung für alle Probleme, aber das Individuum ist es auch nicht. Wenn die Republikaner das mal einsehen würden, täten sie damit ihrer Partei und den Menschen, denen sie helfen wollen, einen großen Gefallen.

Sie schreiben, Präsident Barack Obama sei für die weißen Arbeiter wie ein "Außerirdischer", mit seiner geschliffenen Sprache, seinen Abschlüssen von Eliteuniversitäten, seiner coolen Abgeklärtheit. Aber musste Obama nicht genau so sein, um für das weiße Amerika überhaupt akzeptabel zu sein? Und jetzt wird er dafür kritisiert, nicht volksnah zu sein? Ist das fair?

Ich teile Barack Obamas politische Ansichten nicht, aber ich halte ihn für einen bewundernswerten, außerordentlich anständigen Menschen. Obamas Problem mit der weißen Arbeiterklasse ist, dass er wie geschaffen ist für die Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts - während sehr, sehr viele Menschen aus dieser Schicht diese Wissensökonomie hassen. Rassismus ist vielleicht auch ein Grund, warum diese Menschen Obama ablehnen. Aber der Hauptgrund ist, dass Obama für ein Wirtschaftssystem steht, von dem viele weiße Arbeiter glauben, es schließe sie aus. Alles, was in der modernen Wirtschaft wertgeschätzt wird, ist und kann Obama. Und die Arbeitslosen in Ohio können es nicht. Das löst eine tiefe Verunsicherung aus.

Wie sehen diese Leute Hillary Clinton?

Das wird auch für Clinton ein Problem sein. Die Lage ist ja nicht besser geworden, und die Leute sind noch pessimistischer.

Und Donald Trump?

Trump passt besser in dieses Arbeitermilieu, sei es, weil er sich bemüht, sei es, weil er so ist. Es ist schon erstaunlich, wie er sich als maskuliner Arbeiterjunge gibt, obwohl er in Wahrheit sehr privilegiert aufgewachsen ist. Aber so, wie er auftritt, wie er einfach daherredet, das spricht viele Menschen an, die der Meinung sind, Politik bestehe nur noch aus gedrechselten Phrasen, wie Obama und Clinton sie verwenden. Ob durch Glück oder Genialität - Trump hat das erkannt und kommt damit gut an.

Aber was hätte ein Präsident Trump diesen Menschen tatsächlich zu bieten?

Meinen Sie, ob er politische Ideen hat, die das Leben dieser Leute verbessern würden? Nein. Aber er bietet das an, was viele Leute derzeit noch mehr wollen - eine Stimme, um ihre Frustration zu äußern. Diese Menschen fühlen sich seit so langer Zeit vergessen und ignoriert, dass Trump gar nicht mehr machen muss, als etwas Verständnis und Mitleid zu zeigen. Und man kann Trump viel vorwerfen, aber wenigstens sieht er diese Menschen. Er wurde hart kritisiert, als er einmal gesagt hat: Ich liebe die Ungebildeten. Das hat noch nie ein Kandidat gewagt. Aber die meisten Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, sind nun mal ungebildet.

Angenommen, Trump gewinnt doch. Was ist dann in vier Jahren? Er wird nichts geändert oder verbessert haben. Wächst dann der Frust nicht nur?

Klar. Die Probleme werden größer werden, egal, wer Präsident ist. Die Frage ist, was macht man mit der Wut und der Frustration der Menschen? Ich fürchte, Trump würde tun, was er bisher getan hat, nämlich den Frust und die Wut einfach auf andere Menschen und Gruppen zu lenken. Nach vier Jahren Trump könnten wir also eine noch wütendere weiße Arbeiterklasse haben, welche die Eliten oder die Mexikaner oder die Chinesen, oder wen Trump eben als Ziel aussucht, noch mehr hasst.

Das ist sehr gefährlich, oder?

Ja, das ist sehr gefährlich. Aber der weißen Arbeiterklasse geht es so schlecht wie nie zuvor. Wie viel schlechter kann es ihnen unter Trump also gehen?

Wen werden Sie wählen?

Ich werde sicher nicht für Trump stimmen. Ich kann verstehen, warum er beliebt ist, aber ich halte ihn für inakzeptabel.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie vor zwei Jahren in Kentucky mit einem Jungen namens Brian in einem Schnellrestaurant waren. Brian hat eine ähnlich schwere Kindheit wie Sie. Der Junge benahm sich seltsam, und als Sie ihn fragten, was los sei, bat er um mehr Fritten. Sie schreiben: Im Jahr 2014 hungert im reichen Amerika ein Kind - "Gott hilf uns". Wie geht es Brian?

Es geht einigermaßen. Aber er hat ein hartes, ein sehr hartes Leben, und es wird sehr schwierig für ihn werden.

© SZ vom 22.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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