Gesellschaft:Höflichkeit ist ein wertvolles Gut

Sie ist zu einer unterschätzten Tugend geworden - und bei Hassattacken in sozialen Netzwerken taugt sie sogar zur Verteidigung.

May Ashworth brauchte Googles Hilfe. Also tippte die 86-jährige Engländerin in die Suchmaske: "Bitte übersetze diese römischen Zahlen MCMXCVIII, danke". Als ihr Enkel die Eingabe sah, machte er einen Screenshot und teilte ihn auf Twitter. Wenn jemand in der Netzwelt die höfliche Umgangsform wahrt, dann ist das schon einen Tweet wert - fanden auch Zehntausende Menschen, die das Bild umgehend mit einem "Like" honorierten.

Höflichkeit ist zu einer unterschätzten Tugend geworden. Wer gewohnt ist, nur noch auf sein Smartphone zu starren, nimmt andere nicht mehr wahr; wer sich nur noch mit sich und seinen Problemen beschäftigt, neigt zu einer egozentrischen Abwehrhaltung. Dabei lässt sich viel gewinnen, wenn man freundlich und zuvorkommend auf andere Menschen zugeht.

Rotstift gegen Hass

In den sozialen Netzwerken kann Höflichkeit eine Waffe sein: Wer Anfeindungen oder Hassattacken ausgesetzt ist, kann sich durch eine distanzierte Höflichkeit selbst schützen - und seine Selbstachtung wahren. Die Fernsehjournalistin Dunja Hayali erhielt vor kurzem den Hassbrief eines "Lawrence von Arabien". Eine seiner harmloseren Vorwürfe in dem Schreiben war, sie sei "eine der dümmsten Ziegen, die beim ZDF arbeiten". Hayali antwortete souverän, sie schrieb an den "lieben Lawrence von Arabien" und markierte die 54 Rechtschreib- und Grammatikfehler seines Pamphlets sorgfältig mit dem Rotstift.

Wer Höflichkeit als positive Lebenseinstellung versteht, findet reichlich Gelegenheit im Alltag: Der Chef, der persönlich zum Geburtstag gratuliert, die Nachbarin, die die Hausbewohner höflich um Entschuldigung für eine mögliche Lärmbelästigung bittet, der junge Mann, der einer Mutter mit zwei Kindern den Vorrang bei der Parklücke lässt - sie alle handeln mit der Grandezza der Höflichkeit.

Das fällt selbst den freundlichsten Menschen nicht immer leicht. Momente der Fassungslosigkeit erlebt jeder, oft mehrfach am Tag. Die Wut, der Frust, die innere Unzufriedenheit sind Feinde der Höflichkeit. Gerade deshalb ist sie ein wertvolles Gut. Es geht um den Augenblick der Wahrnehmung, den Moment der Teilnahme, in welchem man bewusst aus der eigenen Blase heraustritt.

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