Flüchtlinge:Schaffen wir das?

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Flüchtlinge, die kurz zuvor mit einem Zug angekommen sind, jubeln am 06.09.2015 auf dem Hauptbahnhof in München. (Foto: dpa)

Die SZ hat diese Frage Anja Reschke und Boris Palmer gestellt, alten und neuen Deutschen, Prominenten und ganz normalen Leuten. Das Ergebnis ist das Porträt eines Landes im Wandel.

In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 beschloss Bundeskanzlerin Angela Merkel, in Ungarn festsitzende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen. Es war eine historische Entscheidung. Die Grenzen blieben Wochen lang offen, mehr als eine Million Menschen aus Nahost und Afrika sind inzwischen gekommen. Ihre Integration ist eine Aufgabe so groß wie die Wiedervereinigung. Die Gesellschaft verändert sich, bei manchen Bürgern ist aus ansteckender Zuversicht lähmende Skepsis geworden. Schaffen wir das? Die SZ hat diese Frage alten und neuen Deutschen gestellt, Prominenten und ganz normalen Leuten. Das Ergebnis ist das vielstimmige Porträt eines Landes im Wandel.

Die Meinungsmacherin: Anja Reschke, 43, ARD-Moderatorin

Mit einem "Tagesthemen"-Kommentar zur Flüchtlingskrise erregten Sie große Aufmerksamkeit. Mal ehrlich: Kann ein zwei Minuten-Kommentar wirklich etwas bewegen?

Mein Kommentar hat damals stark polarisiert. Ich habe viel Zustimmung erfahren, aber auch mehr Ablehnung, als ich mir je hätte vorstellen können.

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Sie haben einen Aufstand der Anständigen gefordert: "Dagegen halten - Mund aufmachen!" Hat das geklappt?

Es wurde durchaus aufgemuckt gegen all die "besorgten Bürger", etwa bei den Demos gegen die Pegida-Kundgebungen in München. Vielen Menschen ist schon bewusst, dass man gegen Fremdenhass und Hetze den Mund aufmachen muss. Das sind die schönen Momente.

Und die hässlichen?

Die Hetze ist noch stärker geworden, noch frecher, noch breiter, noch ungenierter. Flüchtlinge werden als Kriminelle, Vergewaltiger, Sozialschmarotzer bezeichnet - und kaum jemand widerspricht. Diese längst unter Klarnamen verbreitete Lesart hat im Netz die Oberhand gewonnen. Wir Journalisten sind daran aber mitschuldig: Wir geben der Hetze zu viel Raum, schauen eher auf Probleme. Selbst die gelegentlichen Berichte über gelungene Integration der Migranten werden inzwischen eingeleitet mit: Alles nicht so einfach mit den Flüchtlingen, aber ...

Die Kanzlerin wurde für ihr "Wir schaffen das" weltweit gefeiert, innenpolitisch aber zunehmend angefeindet. Schaffen wir das wirklich?

Zumindest ist es ja gelungen, so viele Menschen unterzubringen und zu versorgen: Die Bürokratie ist nicht zusammengebrochen, Deutschland ist nicht im Chaos versunken. Ich hätte nicht gedacht, dass ich als kritische, politische Journalistin mal so klar Partei für Politiker ergreifen würde, aber das Ausmaß des Hasses auf Politiker, allen voran die Kanzlerin, verspottet als "Kanzlerdiktatorin", hat mich schockiert - zumal die Kritiker keinerlei Alternativkonzepte zu bieten haben. Wer soll denn bitte unter diesen Umständen noch freiwillig politische Verantwortung übernehmen?

Manche sagen, prominente Persönlichkeiten wie Sie hätten doch von Ihrer klaren Positionierung mehr profitiert als Sie riskiert haben.

Das ist eine Frage des Blickwinkels. Ich habe insofern profitiert, als ich im letzten Jahr wesentlich bekannter geworden bin, was natürlich auch dem NDR-Politikmagazin "Panorama" zugute kommt. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass man dafür einen derart hohen Preis zahlt. Das Ausmaß an Beleidigungen, denen ich ausgesetzt war und bin, in Briefen, Mails, aber auch auf offener Straße, geht nicht spurlos an einem vorbei. Haltung zeigen ist wichtig, vielleicht wichtiger denn je - es kostet aber auch verdammt viel Kraft.

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Wann hatten Sie das letzte Mal Hunger?

An richtigen Hunger kann ich mich nicht erinnern. Klar, manchmal grummelt's im Magen, aber dann schmiere ich mir ein Butterbrot.

Ihnen geht es also gut.

Na ja, ab und an habe ich schon Lust auf was Richtiges, ein schönes Rindersteak zum Beispiel in einem schönen Restaurant. Das letzte Mal, dass ich mir das gegönnt habe, ist bestimmt schon drei Jahre her, zu meinem 60. Geburtstag.

Seit wann kommen Sie zur Tafel?

Seit ein paar Jahren, bisschen Grünzeug, Salami. Eigentlich komme ich auch nur zum Monatsende. Am Anfang war das schon ein komisches Gefühl, zur Tafel gingen ja meist die Frauen. Jetzt sind bestimmt die Hälfte der Leute hier Flüchtlinge, Männer aus Syrien und Afghanistan.

Woher wissen Sie, woher die Männer kommen?

Das sieht man denen doch an, an der Hautfarbe. Außerdem liest man es in der Zeitung.

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Was haben Sie gelesen?

Dass immer mehr Flüchtlinge kommen, eine Million oder wie viele. Manchmal kommen die mit der ganzen Familie zur Tafel, ein Mann, eine Frau, Kinder. Die fahren die Lebensmittel in Einkaufstrolleys nach Hause.

Und das ist verboten?

Ja nein.

Aber Sie bekommen, was Sie suchen?

Wenn ich vor ein paar Jahren relativ spät am Tag gekommen bin, war trotzdem noch viel da. Jetzt bekomme ich auch mal irgendwas nicht, Zucchini zum Beispiel sind seit Wochen aus. Früher musste ich allenfalls zehn Minuten warten, jetzt steht die Schlange manchmal bis an die Straße.

Sollten Deutsche an der Tafel bevorzugt werden?

Ja, fände ich gerecht.

Das klingt ein bisschen egoistisch.

Fragen Sie meinen Chef, ich war nie krank. Ich habe Steuern bezahlt, Versicherungen, was so anfällt. Vor zwei Jahren bin ich in Rente gegangen, ich hab's am Rücken. Und was bleibt mir? Eine kleine Wohnung in meinem Elternhaus, Urlaub ist nicht drin.

Tun Ihnen die Flüchtlinge nicht leid?

Doch. Die Bilder, die im Fernsehen laufen - da würde ich auch nicht leben wollen, wenn ständig was explodiert. Aber die Flüchtlinge können auch nicht alle nach Deutschland kommen, die Tafel hier nimmt schon jetzt niemanden mehr auf. Es gibt genügend arme Deutsche, die sind zuerst an der Reihe.

Haben Sie je mit einem Flüchtling geredet?

Nein. Ich wüsste nicht, worüber.

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Herr Palmer, die SZ hat Sie als notorischen Rechthaber bezeichnet, der sich in der Flüchtlingsfrage auf Kosten der eigenen Partei profiliert.

Profilierung ist mit Verlaub Quatsch. Ich weiß aber nicht, was schlimm daran sein soll, recht zu haben. Vor einem Dreivierteljahr wurde mir vorgehalten, es sei unmöglich, die Grenzen zu kontrollieren und die Flüchtlingszahlen zu reduzieren, ohne das Grundgesetz und das Völkerrecht zu missachten - das sei eine sinnlose Debatte. Heute ist das Realität. Die Kanzlerin hat den Pakt mit der Türkei geschlossen.

Der Tübinger OB hat die Kanzlerin auf den richtigen Weg gebracht?

Sicher nicht. Sie musste das tun. Aber letzten Herbst wagte noch niemand außerhalb des rechten Spektrums zu sagen: Wir schaffen das nicht, wenn weiterhin Flüchtlinge in so großer Zahl kommen. Zumal, wenn die anderen europäischen Länder unserem Beispiel nicht folgen. Viele Leute haben ähnlich gedacht und geredet, aber nicht öffentlich. Es war eine historische Situation, in der meine Stimme in ein Vakuum eingedrungen ist. Deshalb die große Aufmerksamkeit. Heute kann Hannelore Kraft sagen, sie ist froh, dass keine Flüchtlinge mehr kommen - und nichts passiert.

Aber die Kunst der Politik ist es doch, Debatten zur richtigen Zeit und im richtigen Ton zu führen. Statt Mitgefühl mit den Flüchtlingen zu zeigen, klangen Sie nach AfD.

Ich habe bei jeder kritischen Äußerung auch gesagt, dass wir direkt helfen und viel mehr Flüchtlinge über Kontingente zu uns holen müssen. Klingt für mich nicht wie AfD. Dinge zu diskutieren, die die Menschen bewegen, kann auch dann sinnvoll sein, wenn keine schnelle Lösung auf der Hand liegt, weil sich ansonsten andere der Diskussion bemächtigen oder der falsche Eindruck entsteht, es gebe in Deutschland eine Art Tabuisierung wichtiger Fragen. In der Debatte wird sehr schnell in Gut und Böse eingeteilt. Da werden Menschen in die rechte Ecke gestellt, die nicht dort hin gehören. Da begehre ich auf, das will ich mir nicht bieten lassen. Sagen, was Sache ist, hilft gegen die AfD.

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Und deshalb finden Sie es nun legitim zu fordern, gewaltbereite Syrer notfalls auch in die Heimat zurück zu schicken?

Meine Formulierung war nicht: Ich will Syrer zurückführen. Sondern ich habe die allgemein verbreitete, generelle Aussage verneint, dass es von vornherein unmöglich und falsch sei, Straftäter in Krisengebiete zurück zu schicken. Dabei berufe ich mich auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Gesagt habe ich auch: in Kriegsgebiete selbstverständlich keine Rückführung.

Schmerzt Sie Ihre Ausgrenzung durch die Grünen?

Meine Hoffnung bleibt, dass meine die Parteifreunde anerkennen, was ich in der Praxis leiste. Die Tübinger Flüchtlingspolitik kann sich sehr wohl sehen lassen. Wir haben wie alle Kommunen noch große Aufgaben zu lösen, aber das Tübinger Modell integrativen Bauens mit der Bürgerschaft ist schon so gut, dass die FAZ es als sozialromantisch kritisiert. Ich kann heute sagen: Wir schaffen das ...

... das muss man unbedingt festhalten: Palmer klingt wie Merkel ...

... das können Sie gern tun. Wie sage ich es jetzt, ohne rechthaberisch zu klingen? Wir schaffen es in den Kommunen, weil Frau Merkel es geschafft hat, den Zustrom zu begrenzen.

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