Asylbewerber:Wenn Flüchtlinge ohne Bescheid abgeschoben werden

Rückkehrer

Wieder zurück in Dachau: Fallou M'Bengue.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Polizei setzt Fallou M'Bengue einfach in ein Flugzeug Richtung Italien - ohne Vorwarnung, ohne Abschiebebescheid. Ein Einzelfall?

Von Moritz Köhler, Karlsfeld

Als er Europa erreichte, war er nass. Und erschöpft. Er hatte eine gefährliche Überfahrt hinter sich. Doch als er das italienische Festland betrat, wich die Erschöpfung aus seinen Gliedern. Wäre er umgekehrt, wenn er gewusst hätte, dass das moderne Europa mit der Menge an Immigranten überfordert ist? Dass die deutschen Behörden ihn ohne Vorwarnung abschieben und einen Monat durch Italien schicken würden- zu Unrecht?

"Nein." Fallou M'Bengue, geboren in Ngor, Senegal, sitzt in einem Restaurant in Karlsfeld im Landkreis Dachau. Kurz denkt er nach. "Ich wollte doch unbedingt eine Ausbildung in Europa machen", sagt er auf Deutsch.

Der 32-Jährige ist schlank, fast schon dürr, die Strapazen der vergangenen Monate haben Spuren hinterlassen. Für das Gespräch hat er sich schick gemacht: weißes Polo-Shirt, dunkle Hosen. Während er seine Geschichte erzählt, lacht er viel. Und er hat ein Glänzen in den Augen. Sein Blick: entschlossen. Dabei liegt eine ungewisse Zukunft vor ihm. Und hinter ihm eine Vergangenheit, die kaum zum Träumen einlädt. M'Bengue kommt aus einem Fischerdorf an der Küste des Senegal. Er hat eine Maurerausbildung absolviert, erst bei einem senegalesischen Betrieb, später in der amerikanischen Botschaft in Dakar.

"Eine amerikanische Ausbildung ist schon besser als eine senegalesische, aber nicht so gut wie eine europäische", sagt er. Seit er ein kleiner Junge war, habe er von einer Ausbildung in Europa geträumt. In Deutschland wurde der Senegal als sicheres Herkunftsland eingestuft. Das Auswärtige Amt gibt jedoch eine ständige Terrorwarnung für das Land aus: "In der gesamten Sahelregion einschließlich Senegal besteht seit Jahren eine islamistische terroristische Bedrohung", heißt es auf der Internetseite der Behörde.

Im Juni 2014 brach M'Bengue mit der Hoffnung auf ein besseres Leben auf. Zunächst mit dem Bus durch Mauretanien, Mali und Burkina Faso bis nach Niger, dann mit einem Geländewagen durch die Sahara nach Libyen. In Libyen arbeitete er als Maurer, um das Geld für die Überfahrt nach Italien aufzutreiben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits 800 Euro für seine Flucht bezahlt. Ohne Bezahlung überquert man in Afrika keine Grenze. Die Überfahrt kostete weitere 650 Euro. 76 Leute in einem Schlauchboot.

Kein Schlepper geht auf ein Boot

Gehen die Schlepper mit auf das Boot? M'Bengue hebt die Hand und streicht sich über das Gesicht. Dann lacht er. "Die sind doch nicht verrückt." Ob er Angst hatte? Er spricht ungern über seine Gefühle. Wenn ihm das Gespräch zu persönlich wird, schweigt er. Doch seine Augen und seine Gesten verraten, was er denkt. Wenn ihm etwas unangenehm ist, fährt er sich mit der Hand über das Gesicht, er wendet dann den Blick ab.

Als M'Bengue im Frühjahr 2015 Italien erreichte, dachte er, dass er seinem Ziel ganz nahe wäre. Polizisten schickten ihn nach Neapel. Dort wurde er erstmals registriert, einige Monate lebte er in einer Unterkunft in der Stadt. Die Schlafplätze waren dreckig, die Beamten desinteressiert, die Menschen rassistisch. Im August hielt er es nicht mehr aus. Er reiste weiter nach Deutschland.

Am Münchner Hauptbahnhof registrierten ihn deutsche Polizisten ein weiteres Mal. Über die Erstaufnahmeeinrichtung in Freimann und die Flüchtlingsunterkünfte in der St.-Veit-Straße und in Markt Indersdorf landete M'Bengue im Herbst in Karlsfeld. Dort fasste er schnell Fuß: "Fallou hat bei allem mitgemacht. Er war unglaublich aktiv, zuverlässig und pünktlich", sagt Evi Wimmer vom Karlsfelder Helferkreis. In Kursen und im Eigenstudium lernte er Deutsch. Inzwischen kann er sich fließend in der neuen Sprache unterhalten.

Ein neues Leben in Karlsfeld

Und er fand einen Arbeitsplatz im Bauhof in Karlsfeld: Vier Tage die Woche übernahm er dort einige kleinere Arbeiten, als Maurer konnte er oft helfen. Anton Wallner, der Leiter des Karlsfelder Bauhofs, freute sich über den Helfer: "Er ist sehr fleißig. Und vor allem immer pünktlich." M'Bengue grinst, als er über seine Zeit in Karlsfeld spricht. Karlsfeld war schön, sagt er. Nette Menschen, viele Deutschkurse und Ausflüge.

Diese Zeit nahm am 7. Juni dieses Jahres ein jähes Ende: An diesem Tag standen plötzlich zwei Polizeibeamte auf dem Gelände des Karlsfelder Bauhofs. M'Bengue war auf dem Weg zur Arbeit, als die Polizisten ihn mitnahmen. Sie fuhren mit ihm zu seiner Unterkunft, er durfte gerade noch seine Sachen zusammensuchen. Dann ging es weiter zum Flughafen, wo er in ein Flugzeug nach Mailand gesetzt wurde.

Der Traum schien für immer zerstört

Die Abschiebung erfolgte ohne Vorwarnung. M'Bengue hatte nie einen Abschiebebescheid erhalten - obwohl das Asylgesetz das fordert. Immer wieder fragte er die Polizisten: "Was habe ich getan? Warum muss ich gehen?" Die Polizisten konnten ihm nicht antworten. Sie hätten ihre Befehle, sagten sie. Er kommt ins Stocken. Wieder fährt er sich mit der Hand über das Gesicht.

"Als ich im Flugzeug gesessen habe, dachte ich, dass mein Traum jetzt für immer zerstört ist." Die Behörden hatten ihm genommen, was er sich in Karlsfeld aufgebaut hatte. Er hatte keine Chance, sich auf die Abschiebung vorzubereiten. Er hatte nicht einmal die Zeit, sich zu verabschieden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) berief sich bei der Abschiebung auf die Dublin-III-Verordnung. Darin haben sich die EU-Staaten sowie Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz darauf verständigt, dass Flüchtlinge ihre Asylanträge in dem Staat stellen müssen, in den sie zuerst eingereist sind. In M'Bengues Fall also Italien.

Von Mailand aus wurde er von den italienischen Behörden nach Neapel geschickt. Einen Schlafplatz erhielt er nicht. Er schlief bei einem befreundeten Senegalesen, bis eine Ehrenamtliche des Karlsfelder Helferkreises ihm ein Zimmer in einem Gästehaus in Meran vermittelte. Während dieser Zeit ging es ihm schlecht. Schließlich wusste er noch immer nicht, warum er Deutschland hatte verlassen müssen.

Er schlief kaum, hatte keinen Appetit. "Zahnschmerzen", sagt er. "Sorgen", sagt der Pater in Meran, der einige Gespräche mit M'Bengue geführt hatte. Warum hat er dem Pater nie von den Zahnschmerzen erzählt? "Er ist ein alter Mann, er hat eigene Probleme", sagt M'Bengue. Er will die Menschen in seiner Umgebung nicht mit seinen Problemen belasten, vor allem nicht seine Mutter. Er hat ihr nichts von seiner Abschiebung erzählt. "Sie hätte sich nur Sorgen gemacht. Und sie weint immer so viel."

Während M'Bengue in Meran war und gar nicht an eine Rückkehr nach Deutschland zu denken wagte, forschten die Ehrenamtlichen des Karlsfelder Helferkreises nach dem fehlenden Abschiebebescheid. Der Bescheid ist wichtig für die korrekte Durchführung des Asylverfahrens: Der Flüchtling kann nur Widerspruch gegen seine Abschiebung einlegen, wenn er das Dokument erhalten hat.

Ein Fehler der Behörden

Durch Recherchen der Süddeutschen Zeitung stellte sich heraus: Den Behörden war bei der Zustellung ein Fehler unterlaufen. Wer dafür verantwortlich war, wird derzeit geprüft. "Wir nehmen solche Fälle sehr ernst und kümmern uns mit der nötigen Sorgfalt darum", sagt Andrea Brinkmann vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. "Es ist natürlich nicht schön für die betroffene Person. Außerdem versuchen wir ständig, unsere Prozesse zu verbessern. Das geht nur, wenn wir auf solche Fehler aufmerksam gemacht werden."

Schließlich wurde M'Bengues Rückholung angeordnet. Am 13. Juli landete er fünf Wochen nach seiner Abschiebung wieder in München.

"Wir kennen solche Fälle", erläutert Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat. In Bayern höre man immer wieder, dass Flüchtlinge ohne Bescheid abgeschoben werden, sagt er. Und auch in anderen Bundesländern existiere das Problem. "Konkrete Fälle sind uns beispielsweise auch aus Berlin bekannt", sagt Stephan Dünnwald.

Das Verfahren läuft jetzt in Deutschland

M'Bengue hatte Glück: Während er in Italien war, ist die offizielle Frist für ein Verfahren nach der Dublin-Verordnung abgelaufen. Sein Antrag auf Asyl wird jetzt in Deutschland geprüft.

Inzwischen lebt M'Bengue in einer Unterkunft in der Stadt Dachau. Er hat seinen Job im Karlsfelder Bauhof zurück, besucht die Integrationsangebote, lernt weiter Deutsch.

Hat er das Vertrauen in die deutschen Behörden verloren? Nein, sagt er. M'Bengue macht eine Pause, blickt sich um. "Manchmal habe ich aber Angst, dass das wieder passiert." Dass plötzlich wieder die Polizei vor dem Bauhof steht. Dass sie ihn mitnehmen und ihm niemand sagt, was er getan hat. Wieder hebt er seine Hand und bedeckt seine Augen.

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