Familie und Partnerschaft:Starallürchen: Mein Kind will zum Film

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Wenn der Film fertiggestellt ist, folgt die Premiere. Manchmal dürfen dann auch die Kinderschauspieler dabei sein. Und ihre Eltern. (Foto: Getty Images)

Weil ihre Tochter unbedingt vor der Kamera stehen möchte, spielt unsere Autorin die Film-Mama. Keine leichte Rolle.

Von Lisa Frieda Cossham

Meine Tochter wird gleich ertrinken. Sie steht auf Kieselsteinen am Isarufer, ihr schmaler Körper steckt in einem grobmaschigen Badeanzug aus den Sechzigerjahren. Sie watet ins Wasser. Schaut zurück. Und winkt, bevor sie losschwimmt. Ihre Bewegungen sind hektisch, ihr muss kalt sein. Sie verliert sich in der Strömung, kreiselt. Hilfe, ruft Louise, das kann man von ihren Lippen ablesen, Hilfe. Sie schluckt Wasser und rudert mit den Armen.

Ich kann ihr in Ruhe dabei zusehen. Denn meine Tochter wird nicht wirklich ertrinken. Sie spielt in einem Film mit.

Tätowierte Männer pumpen aus dicken Schläuchen Wasser gegen die Strömung, das Kind soll ja nicht abtreiben. Flussaufwärts steht eine Stuntfrau mit einem Seil in der Hand, das Louise sichert. Am Ufer läuft ein kleiner Mann auf und ab, graues Haar, gelbes Shirt. Es ist der Münchner Regisseur Michael Verhoeven, der an diesem Septembernachmittag einen Fernsehfilm für die ARD dreht. Er hebt die Hand, Cut. Ein Stuntman ist in nur vier Schwimmzügen bei Louise und holt sie aus dem Wasser. Ich setze mich auf die Steine, um zwischen den Beinen der Crewmitglieder hindurchzuschauen und fühle mich fehl am Platz. Seit sich Louise für eine Filmkarriere entschieden hat, ist das häufiger der Fall.

"Ich möchte gesehen werden"

Louise ist neun Jahre alt, als sie sagt: "Mama, ich möchte Filme drehen. Vor der Kamera stehen. Ich möchte gesehen werden." Ich antworte: "Die Menschen sehen dich auch, wenn du auf einer Bühne stehst. Du könntest Theater spielen. Warum gerade zum Film? Wir haben nicht mal einen Fernseher." Louise bleibt standhaft: "Ich möchte drehen", wiederholt sie. Und weil es sich richtig anfühlt, weil mir einfällt, dass sie gerne fotografiert wird und mit ihrem Smartphone sich, ihre Spielfiguren oder Freundinnen filmt, stimme ich zu. Eine Freundin hat eine Agentur für Kinderdarsteller, sie nimmt Louise auf. "Willst du auch?", frage ich ihre große Schwester. Martha schüttelt den Kopf. Wenige Wochen später kommt die erste Anfrage von einer Filmproduktion.

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Seitdem holen uns zwei oder dreimal im Jahr schwarze Vans mit abgedunkelten Scheiben von zu Hause ab. Ein Fahrer fährt uns zum Set und später wieder zurück. Für einen oder mehrere Tage tauchen wir ein in eine fremde Welt, in der sich Louise gerne bewegt. Als Elternteil muss ich sie begleiten. Größere Produktionen buchen eine Kinderbetreuerin, die sich um jedes Bedürfnis des Kindes kümmert. In so einem Fall werde ich nicht gebraucht. Anfangs bleibe ich trotzdem dabei, ich bin neugierig, und haste durch Requisiten auf der Suche nach meiner Tochter und ihrer Betreuerin. Ich muss schnell sein, um nicht alleine dazustehen wie auf einer Party, auf der ich nur die Gastgeber kenne. Ich würde ja Freundschaften schließen, aber Mütter von Kinderdarstellern gelten beim Team als uncool.

Wir, die Film-Mamas, haben einen schlechten Ruf: Wir verkaufen unsere Kinder. Schleppen sie zu Castings, dann zu anstrengenden Drehs. Wir zerren sie in eine oberflächliche Welt, in der sie verwöhnt werden, bis sie verhaltensauffällig sind. Das kommt häufig vor, erzählt mir ein Maskenbildner. Er hat recht. Die Mütter wundern sich, wenn sie mit dem Zug fahren müssen und nicht ans Set eingeflogen werden. Sie diskutieren laut, wenn ihnen die Filmfrisur ihres Kindes unvorteilhaft erscheint. Sie beurteilen und vergleichen die Leistung ihrer Kinder untereinander: Mein Kind hat schon mit Mario Adorf gedreht! Und deines? Wie viele Takes hat denn deine Tochter für die Szene gebraucht?

Gute Film-Mütter sind unsichtbar

Gute Film-Mütter, Lektion eins, sind möglichst unsichtbar. Also weiche ich Kabelträgern aus, versuche niemanden anzusprechen und schaue lieber stundenlang konzentriert auf mein Telefon.

Der erste Dreh ist der Spot einer Stiftung, die für mehr Bildungsgerechtigkeit wirbt. Louise soll durch ein Megafon erzählen, wie sehr sie der Leistungsdruck belastet, mitten auf dem Odeonsplatz in München. Unvorhergesehen taucht ein verwirrter Mann auf, der Bibelverse schreit. Das Filmteam wartet. Nervös streiche ich Louise über das Haar, und sie sagt: "Mama, du bist die Letzte, die ich jetzt hier brauche." Dann stellt sie sich vor die Menschen, die in Decken gehüllt an kleinen Tischen eines Cafés sitzen und spricht mit fester Stimme ihren Text. Hinterher scherzt sie mit dem Kameramann, dem Regisseur, mit Menschen, die sie für Tage oder Stunden zu ihren Freunden erklärt. Sie ist mutig, übermutig fast.

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Das macht mich stolz. Natürlich hoffe ich, dass Louise umsetzen kann, was der Regisseur ihr sagt. Wie die anderen Mütter starre ich auf Monitore, sehe meine Tochter spielen und denke, sicher spricht sie zu monoton, bewegt sich nicht genug, und sollte sie nicht erst lachen und dann winken? Ich stehe zwischen 30 oder 50 stummen Menschen, die darauf warten, dass das jetzt hier klappt.

Dass Film-Mütter aus den Augen verlieren, worum es eigentlich geht, nämlich dass ihr Kind Spaß hat, herausgefordert wird, sich ausprobieren kann, verstehe ich. Und daran versuche ich mich zu erinnern, wenn Louise Produktionen ablehnt, weil sie sich vor Castings fürchtet. Das gelingt mir nicht immer. Ein Kinderbuch wird verfilmt, und Louise geht nicht hin? Diese halbe Stunde, denke ich. Ist doch bloß eine Übung, wir müssen alle mal durch so etwas durch. Aufregung vergeht, komm, Kind.

Louise weiß, sie muss nicht. Sie wird fahrig in den Warteräumen zwischen Gleichaltrigen, in die Casterinnen hineinstürmen und die nächste aufrufen, als säßen sie beim Zahnarzt. Sie verweigert sich dem Improvisieren vor Regisseuren, die sie noch nie gesehen hat. "Dieser Mann hat mich gefragt, was ich mache, wenn ich einen toten Igel sehe", erzählt sie mir empört. "Und?", frage ich. "Nichts", antwortet sie, "was für eine komische Frage!" Wir lachen. Inzwischen entscheidet sie sich für Projekte von Studenten oder kleinere Produktionen, die auf ein Casting komplett verzichten.

Für jeden Dreh braucht Louise die Einverständniserklärung der Eltern, eines Arztes, der Schule und des Jugendamtes. Alle müssen unterschreiben. Frau N. vom Jugendamt prüft, was gedreht wird und in welchen Szenen das Kind mitspielt. In einer Folge der Krimiserie "Soko München" soll Louise von maskierten Männern gekidnappt werden. "Finden Sie das nicht ein bisschen heftig?", fragt Frau N. und macht zur Bedingung, dass das Produktionsteam einen Psychologen bereitstellt. Ich finde das richtig, auch wenn ich weiß, dass die Männer Louise kaum beeindrucken werden. Brutal wird die Szene erst durch den Schnitt.

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Tatsächlich redet und flachst sie mit den Typen in falschem Leder, bevor sie ihre Sturmhauben übers Gesicht ziehen und sich das Kind packen. Drei Stunden dreht sie mit ihnen in einem Wohnblock in Neuperlach, fünf Stunden ist sie am Set. Länger dürfen Kinder dem Gesetz nach nicht anwesend sein. In den Pausen sitzen wir mit dem bereitgestellten Psychologen in einem beheizten Wohnwagen, es ist Dezember. Er schweigt und lächelt. Dann zaubert er die Flamme seines Feuerzeugs von der einen in die andere Hand. Louise beobachtet ihren Beschützer mit den magischen Kräften. Der erste stille Moment an diesem Set.

Die Schwester muss zuhause bleiben

Nur selten kommt ihre zwei Jahre ältere Schwester mit. Martha ist 13 Jahre alt und langweilt sich, denn niemand hat Zeit für ein extra Kind, das nicht zur Crew gehört und verträumt im Weg steht. Ob sie sich benachteiligt fühlt? Ich weiß es nicht. Aber Martha beschwert sich nicht. Sie bleibt der Filmwelt fremd, ist fehl am Set, wo alles effizient ineinandergreifen soll und Verbindlichkeiten so schnell zerfallen, wie sie behauptet werden.

Und doch will sie einmal dabei sein, als Louise für die "Soko München" dreht. Martha hat die letzte Schulstunde geschwänzt, ist mit Louise nach Hause gerannt und möchte mitfahren im dunklen Van, der in der Einfahrt wartet. Fahrer Sven fragt am Set nach, ob das geht. Die Telefonsprechanlage hat er auf laut gestellt, das Nein des Produktionsleiters scheppert über den Hof. Wenn ihr ein Scheinwerfer auf den Fuß fällt, sagt er, versicherungstechnisch. Martha zuckt die Schultern. Ich muss sie stehen lassen.

Ob Louise eine glaubwürdige Geisel war, weiß ich nicht. Wir haben die "Soko"-Folge verpasst, wie andere ihrer Filme zuvor. Ich vergesse immer, nach dem Sendetermin zu fragen, und auch sonst erinnert mich niemand daran. Louise scheint es nicht wichtig zu sein. Das beruhigt mich. Das Drehen bleibt etwas, das nichts mit ihrer Mädchenwirklichkeit zu tun hat und unser Familiengefüge bis jetzt nicht verändert hat. So ein Drehtag scheint nicht mehr als eine Wundertüte zu sein, aus der quirlige Menschen steigen, die Louise Aufmerksamkeit schenken und sie darum bitten, das zu tun, wozu sie Lust hat: zu spielen. "Möchtest du später Schauspielerin werden?", frage ich sie. "Nein, Regisseurin", lautet ihre Antwort.

Wenn sie sich wundert, ist Schluss

Bayernkaserne, Tage nachdem Louise in der Isar geschwommen ist. Der Regisseur Michael Verhoeven sitzt in der Kulisse eines Kinderzimmers, neben ihm Louise und Leon, beide sind gleich alt, sie spielen Nachbarn im Film. "Ich verstehe euch schlecht", sagt Verhoeven, "ihr redet undeutlich und schnell." Er steht auf und holt Kekse. Sie sollen sich den Mund vollstopfen und noch einmal sprechen. Gekicher, Krümel fliegen, aber sie reden langsamer, artikulieren sauberer, um verstanden zu werden.

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Hinter ihnen steht Schauspieler Michele Cuciuffo, er spielt Leons Vater. "Komm mal her, schau mal", sagt er mit tiefer Stimme, es ist sein Text. Die Worte sind präzise gesprochen. Er ist präsent. Ich beobachte Louise. Sie schaut zu ihm auf, zu Hause wird sie seinen Text wiederholen, er hat sich ihr eingeprägt.

In diesem Moment denke ich, dass ich für ihre Spielfreude gerne noch länger an seltsamen Orten herumstehe und Schatten werfe, abgestandenen Kaffee trinke und vor Freunden rechtfertige, warum ich mein Kind in diese Welt hineinlasse.

Gute Film-Mütter steigen aus, wenn sie spüren, dass sie ehrgeizig werden, Erfolg planen, Bilanz ziehen, Wünsche verwechseln, Sehnsüchte übertragen. Spätestens wenn Louise sich wundert, dass kein Fahrer vor der Tür steht und niemand die Strömung des Flusses umleitet, so wie sie es gerne hätte, ist Drehstopp. Kam noch nicht vor. Ob das so bleibt? Ich hoffe es.

© SZ vom 05.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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