200-jähriges Jubiläum:Unser Monster, Dr. Frankenstein

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Gruselige Vorstellung: die beschauliche Altstadt von Ingolstadt in den Händen von Frankenstein. (Foto: imago/Hollywood Photo Archive/Montage SZ.de)

Vor 200 Jahren erschuf die Autorin Mary Shelley die Figur Dr. Frankenstein. Ausgerechnet in Ingolstadt. Ehre oder Beleidigung? Ein Besuch in einer Stadt, in der es sich wunderbar gruseln lässt.

Von Titus Arnu, Ingolstadt

Ingolstadt kann einem schon ein bisschen Angst machen. Das Erste, was man nach der Ankunft mit dem Zug sieht, ist ein Werbeplakat für einen Gruselfilm. Das Bahnhofsgebäude aus den 50er-Jahren wirkt wie die Kulisse für einen historischen Krimi, die Innenstadt ist furchtbar weit weg. Bei der Tourist-Information am Rathausplatz stehen Ampullen mit "Monsterblut" im Schaufenster. Im gleichen Gebäude befindet sich eine Praxis für Plastische Chirurgie, auf einem Messingschild der Slogan: "Wohlbefinden durch Ästhetik". Ein Haus weiter, über dem Fanshop des FC Ingolstadt, schon wieder eine Praxis für Chirurgie, Spezialgebiet Anti-Aging. Kann das alles Zufall sein?

Wer auf den Spuren von Frankenstein durch Ingolstadt schleicht, sieht den Ort mit anderen Augen. Apropos andere Augen: Was passiert im "Augenzentrum am Theater" wirklich? Ein paar Schritte weiter: ein Fachgeschäft für Messer. Das Restaurant Taj Mahal bietet ein "Spezialmenü aus Dr. Frankensteins indischer Laborküche" an. Sehr mysteriös, das alles. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Messern, den vielen Chirurgen und dem Café Fingerlos in der Ludwigstraße?

200 Jahre Frankenstein
:Monster mit Herz

Januar 1818 erschien "Frankenstein", der erste Roman der damals gerade erst zwanzig Jahre alten Mary Shelley. Die Geschichte vom künstlichen Menschen hat seitdem nichts von ihrer Kraft verloren.

Von Nicolas Freund

Erst mal durchatmen. Im Café Fingerlos ist nur der Name gruselig, der Wirt hat offensichtlich noch alle Gliedmaßen. Das "Monsterblut" ist Heidelbeerlikör. Und es steht zwar eine monströse Autofabrik vor den Toren Ingolstadts, von der Autobahn aus sieht man eine monströse Erdölraffinerie und monströse Shopping-Malls - die mittelalterlich geprägte Altstadt aber ist sehr hübsch und wirkt größtenteils harmlos. Dabei ist sie tatsächlich die Heimat eines weltbekannten Monsters.

Das Herzenshorrorthema des Rathaus-Sprechers: Frankenstein.

Ingolstadt ist nicht nur der Geburtsort Horst Seehofers, sondern auch der von Dr. Frankenstein und seiner "Kreatur".

Vor 200 Jahren erschien Mary Shelleys Roman "Frankenstein oder Der Moderne Prometheus". Man kennt das quadratschädelige Monster aus Kinofilmen, aber die wenigsten wissen, dass die Geschichte zu gut einem Drittel in Ingolstadt spielt. "Als ich siebzehn Jahre alt war, beschlossen meine Eltern, ich solle an der Universität in Ingolstadt studieren", erzählt die Hauptfigur Viktor Frankenstein im dritten Kapitel des Romans. Die britische Autorin lässt den wissbegierigen jungen Mann mit der Postkutsche von Genf nach Bayern reisen; in Ingolstadt beginnt er mit seinen Studien, er beschafft sich Leichenteile vom Friedhof, bastelt in seinem Labor damit herum und erweckt den zusammengestückelten Körper zum Leben. Im Ur-Frankenstein-Roman wirkt der künstliche Mensch anfangs eher naiv als brutal. Die Kreatur wandelt sich erst zur rachsüchtigen Bestie, als ihr Schöpfer sich schaudernd von ihr abwendet.

Es wäre unangemessen, Michael Klarner als monströs groß zu bezeichnen, aber mit seinen 1,94 Metern muss er den Kopf einziehen, um verletzungsfrei durch das Eingangstor der Fasshalle an der Hohe-Schul-Straße zu kommen.

Klarner führt Besucher auf den Spuren von Dr. Frankenstein durch die Altstadt, erste Stationen sind der Rathausplatz mit den im Roman erwähnten "weißen Türmen", dem St. Moritz-Kirchturm und dem Pfeifturm, die Hohe Schule und die Fasshalle. Das uralte Gewölbe der Fasshalle gehört zum Georgianum, einem Priesterseminar aus dem Spätmittelalter, es wurde ab 1817 von einer Brauerei als Lagerhalle und später als Veranstaltungsraum genutzt. Im Frankenstein-Roman ist die Rede davon, dass der Medizinstudent in einer bayerischen Wirtschaft Quartier nimmt - vielleicht im Gasthaus Daniel schräg gegenüber der Fasshalle?

"Das meiste ist Spekulation", sagt Michael Klarner, der sich seit 23 Jahren mit der Entstehung des Frankenstein-Romans befasst und das Buch "Spuren eines Phantoms - Frankenstein in Ingolstadt" verfasst hat. Denn außer den Stichworten "Ingolstadt" und "Universität" finden sich wenig konkrete Anhaltspunkte im Text. Aber gerade deshalb lässt es sich ja so schön mutmaßen und gruseln.

150 Touren zu historischen Themen bietet die Stadt an, zum Frankenstein-Jahr 2018 hat das Kulturamt ein ungeheuer großes Programm auf die Beine gestellt. Geplant sind Freiluft-Filmabende, ein Frankenstein-Theaterstück, Literaturtage, Vortragsreihen und ein Futurologischer Kongress. Hotels bieten Frankenstein-Pakete mit "Frankensteins Medizintrunk" als Begrüßungsgesöff an, die Antonius-Schwaige hat ein Frankenstein-Menü mit Bloody Victor, Blut-Suppe und Hirnrührei auf der Karte, ein Konditor hat ein Frankenstein-Eis mit schwarzer Waffel kreiert. Es ist haarsträubend.

Bei den abendlichen Stadtrundgängen verkleidet sich Michael Klarner normalerweise als Dr. Frankenstein; Monster-Darsteller machen sich einen Spaß daraus, die bis zu 100 Personen großen Gruppen zu erschrecken. Seit zwei Jahren arbeitet Klarner als Pressesprecher im Rathaus, er hat nicht mehr so viel Zeit für sein Herzenshorrorthema, deshalb übernehmen nun Schauspieler die Rollen.

Nach seinem Abitur 1995 fing er an mit den Führungen, zunächst nur ab und zu und als Hobby, aber die Nachfrage wurde immer größer. "Ich fühle mich jetzt reif genug, nicht mehr verkleidet durch die Altstadt zu laufen", sagt er, aber Fachfragen zu Frankenstein beantwortet er natürlich immer noch schrecklich gerne.

Das Monster und sein Schöpfer mit der Fackel, wie der antike Prometheus. Szene aus "Frankenstein", der Verfilmung von James Whale, 1931.

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(Foto: Universal Studios)

Das Plakat der Verfilmung von 1931.

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(Foto: Universal Studios)

Seit Boris Karloff das Monster spielte, kann man es sich kaum anders vorstellen: Hohe Stirn, ein paar Wunden und Halsschrauben sind seit 1931 ein Muss.

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(Foto: Public Domain)

Davor nahm das Monster noch andere Formen an, wie in dieser irischen Illustration von 1882. Die Karikatur war Teil der Propaganda gegen Bevölkerungsgruppen, die für Irlands Unabhängigkeit kämpften.

Also: Was haben die Illuminaten damit zu tun? Und gab es wirklich Laborexperimente mit Leichen in Ingolstadt? "Tatsächlich stammt nicht nur das Reinheitsgebot für Bier aus Ingolstadt, sondern auch die Illuminaten ", sagt Klarner. An der Universität Ingolstadt gründete Adam Weishaupt 1776 den akademischen Geheimbund, dem zur Zeit der Aufklärung Goethe, Knigge, Herder, Pestalozzi und andere deutsche Geistesgrößen angehörten. Auch Mary Shelleys Ehemann, der britische Dichter Percy Shelley, stand den Illuminaten nahe. Um den medizinischen Teil zu verstehen, sollte man die "Alte Anatomie" am Rande der Altstadt besuchen, die im Auftrag der Medizinischen Universität Ingolstadt erbaut wurde. Hier wurden bis zum Jahr 1800 Leichen seziert. Heute befindet sich in dem Gebäude das Deutsche Medizinhistorische Museum.

Von Frankenstein-Badeenten und Frankenstein-Notizbüchern

Im Museumsshop kommen Frankenstein-Fans voll auf ihre Kosten: Frankenstein-Badeenten, -Notizbücher, -Kühlschrankmagnete. Eine Vortragsreihe befasst sich unter dem Motto "Baukasten Mensch" mit künstlichen Herzen, Penis-Implantaten und Prothesen. Wenn die Sanierung des prächtigen Barockbaus abgeschlossen ist, wird eine umfangreiche Frankenstein-Ausstellung zu sehen sein.

Trotzdem wehrt sich Museums-Chefin Marion Ruisinger gegen die Frankensteinisierung ihres Hauses. "Versuche mit Tieren und Menschen waren in der medizinischen Forschung damals ganz normal", sagt sie, "und es gehörte selbstverständlich schon immer zur Ausbildung von Ärzten, dass Leichen seziert wurden."

So gab es auch in Ingolstadt ein "Anatomisches Theater", in dem Professoren vor den Augen von Studenten Körper auseinander fieselten, daran war aus Sicht der Wissenschaft überhaupt nichts Gruseliges. "Anatomie kann sehr lebendig sein", sagt Medizinhistorikerin Ruisinger, ein sehr schöner Satz, der zurück zu Frankensteins Kreatur führt.

Mary Shelleys Ehemann Percy war als Schüler häufig beim schottischen Arzt James Lind in Behandlung, der sich wie andere Forscher Anfang des 19. Jahrhunderts mit Elektro-Experimenten beschäftigte. Er stimulierte Froschschenkel mit Strom. Einen ziemlich frankensteinesken Versuch führte der Italiener Giovanni Aldini zu Lebzeiten Shelleys durch: Am Leichnam des am 18. Januar 1803 in London hingerichteten Doppelmörders George Forster rief er mit Stromstößen heftige Muskelreaktionen hervor. Solche öffentlichen Experimente waren vermutlich die Haupt-Inspiration für Shelleys Roman.

Elektrisiert, aber nicht total geschockt verlässt man Ingolstadt mit der elektrischen Eisenbahn. Auf dem Smartphone poppt eine echt gruselige Meldung auf: Der italienische Arzt Sergio Canavero wolle im Frühjahr 2018 die weltweit erste Kopftransplantation durchführen, heißt es.

Wenn man den Frankenstein-Roman zu Ende liest, muss man sagen: hoffentlich nicht. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis des Schauerromans, sagt Marion Ruisinger: "Frankenstein ist eine Symbolfigur für die Grenzen der Medizin."

© SZ vom 29.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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