Historie:Das Monster in uns

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Vor 200 Jahren erblickte "Frankenstein" das Licht der Welt. Womöglich hatte das Opium der jungen Autorin Mary Shelley die Sinne umnebelt - ihr Erfolg aber hält bis heute an.

Von Werner Bloch

Ein Monster in Netzstrümpfen? Okay: So hatten wir uns Frankenstein nicht gerade vorgestellt. Ein androgynes Wesen, das sich auf dem Boden rekelt, mit femininen Zügen, aber den Brustmuskeln eines Olympiasiegers. Offenbar ist die Kreatur gerade zum Leben erwacht und von sich selbst hell entsetzt: "Die gelbliche Haut verdeckte nur notdürftig das Spiel der Muskeln und das Pulsieren der Adern." So posiert Frankenstein auf der Titelseite der ersten illustrierten Buchausgabe von 1831. Doch das Monster wechselt ständig sein Gesicht.

Vor ein paar Wochen druckte eine französische Zeitung ein Foto mit den entgleisten Gesichtszügen von Donald Trump - unter der Schlagzeile "Trumpenstein". Jeder weiß sofort, was gemeint ist: Das Monster lebt! Nun auch in der Chefetage der amerikanischen Politik, im Weißen Haus.

Derzeit gibt es wahre Frankenstein-Festspiele in Genf, der Geburts- und Entstehungsstadt des Monsters. Hier spielt der Anfang des Romans, hier wurde Frankenstein vor 200 Jahren gewissermaßen geistig gezeugt. Die Stadt geht in mehreren Ausstellungen und einer Vielzahl von Vorträgen und Symposien diesem vielleicht größten Sohn ihrer Geschichte nach - einer Kreatur, die vielschichtiger ist, als es zunächst erscheint.

"Das Monster ist immer der andere", erklärt David Spurr, Professor an der Universität Genf und einer der führenden Frankensteinologen. Jahrelang hat er im Auftrag der Stiftung Martin Bodmer alte Manuskripte und Dokumente aus der ganzen Welt zusammengetragen. Der bei Gallimard erschienene Katalog "Frankenstein, geboren aus der Finsternis" verändert den Blick auf Frankenstein und hat schon heute das Zeug zum Klassiker. Der Leser verfolgt Zeile um Zeile, wie aus unbeholfenem Gekritzel ein Weltbestseller entsteht, von der bescheidenen Urfassung bis zum ausgefuchsten Gesamtwerk. Purrs Fazit: "Über Jahrhunderte und ganze Epochen hinweg war das Monster der rassisch andere." Einer, von dem offenbar große Angst ausgeht.

Boris Karloff spielte 1931 das Monster des Dr. Frankenstein (Filmposter) und prägte das Gesicht der "Kreatur". (Foto: akg-images)

Das bestätigen die Plakate und Titelseiten der fast jährlich erscheinenden Romanausgaben. Da sehen wir einen schwarzen Hünen im Baströckchen, muskulös wie aus dem Fitnessstudio und mit weit aufgerissenen Augen, sexuell aufgeladen und voller Spannung - Sinnbild des Sklaven und Wilden, wie man es sich Mitte des 19. Jahrhunderts vorstellte, auf dem Höhepunkt des englischen Imperialismus und des Empire. Die "Kreatur" als der "exotisch Andere". Ein Zerrbild aber auch unser selbst ist sie, unserer atavistischen Instinkte, der wissenschaftlichen Schöpfungskraft. Manchmal ist Frankenstein unter den vielen Nachdichtungen, Kopien und Persiflagen eben auch - eine Frau, Spiegelbild der Autorin Mary Shelley. Ein Gedanke, mit dem sich offenbar gerade amerikanische Künstlerinnen angefreundet haben.

200 Jahre Frankenstein - genau so lange ist es her, dass die Kreatur im Kopf einer jungen Engländerin zu spuken begann. Gut, ein bisschen hat auch das Wetter nachgeholfen. Es war kalt in jenem Jahr 1816, das als "Jahr ohne Sommer" in die Geschichte einging, eiskalt. Ein hyperaktiver Vulkan in Indonesien hatte Rauch und Asche ausgespien, so viel, dass sich selbst in Europa der Himmel verdüsterte.

Bevor 1931 der legendäre Frankenstein-Film ins Kino kam, wusste niemand, wie man sich die Gestalt des Monsters vorstellen sollte

Damals saßen vier Engländer, Lord Byron, sein Leibarzt John Polidori, der Romantiker Percy Shelley und seine spätere Frau Mary Godwin in einem Palazzo mit Blick über den Genfer See. Man erzählte sich bei Düsternis und fröstelnden Temperaturen Schauergeschichten. Der Dichter Lord Byron, der aus England unter anderem wegen Vorwürfen einer Inzest-Affäre mit seiner Halbschwester hatte fliehen müssen, schlug vor, jeder solle sich eine eigene Spukgeschichte ausdenken. Es war der produktivste Workshop, der je zum Thema Gruselstory stattgefunden hat. Byrons Leibarzt Polidori veröffentlichte 1822 "The Vampyre", die erste literarische Umsetzung der populären Vampirgeschichten. Und Mary Shelley erfand Frankenstein.

Als sie zur Feder griff, war sie gerade mal 17 Jahre alt - völlig unerfahren und extrem brillant. Zwei Jahre später, 1818, erblickte "Frankenstein oder Der neue Prometheus" das Licht. Das Buch wurde gleich ins Französische und viele andere Sprachen übersetzt. Die deutsche Übersetzung erschien allerdings erst 1912.

Es hagelte Nacherzählungen und Adaptationen für die Bühne, mehr als 100 Filme wurden gedreht. Erst in diesem Jahr kam "Frankenstein - Genie und Wahnsinn" in die Kinos. Bis heute ist die Figur, die Boris Karloff darstellte, mit ihren Körpernähten und disparaten Körperteilen der Prototyp des Monsters. Vor diesem expressionistischen Film von 1931 freilich hatte niemand einen Schimmer, wie genau man sich die Gestalt Frankensteins wohl vorstellen könnte. Danach interessierten sich auch die Künstler dafür - im Grunde genommen bis heute. Und klar, es gibt auch ein Computerspiel zu Frankenstein. Dabei ist das alles ein ziemliches Missverständnis.

Frankenstein auf der Bühne in Wolfratshausen (2012). (Foto: Hartmut Pöstges)

Viele nämlich glauben, Frankenstein sei der Name des Monsters. Ein Irrtum. Im Roman bleibt die "Kreatur" seltsam namenlos. Ihr Schöpfer heißt Viktor Frankenstein, der geniale Wissenschaftler, der alle Tabus zertrampelt, neues menschliches Leben schafft und damit Gott spielt. Dummerweise ist er bei der Ausführung seiner Operation ein wenig geistesabwesend, so dass ihm das Geschöpf recht hässlich gerät - worauf sich der enttäuschte Erzeuger angewidert abwendet. So führt die Handlung in die Katastrophe. Am Ende wird der Held splatterartig von seiner eigenen Kreatur gemeuchelt.

Mary Shelley war trotz ihrer jungen Jahre auf der Höhe ihrer Zeit. Sie kannte die Technik der "Galvanisierung", bei der die Muskeln von Fröschen unter Strom gesetzt wurden und wild zuckten. Diese Experimente wurden in englischen Gefängnissen an den Körpern hingerichteter Delinquenten verfeinert. Es genügte ein wenig Strom - schon schlug der Tote um sich und schien wieder lebendig zu werden. Das Experiment war genau die Blaupause für Frankenstein in der legendären Szene, in der die "Kreatur" erwacht.

Im Übrigen ging es in der Villa Diodati, wo das Skript begonnen wurde und die heute einem ehemaligen Investmentbanker gehört, mit ihren griechischen Säulen, Schwimmbecken und Rosenhecken nicht immer nur nüchtern und literarisch zu. Ein Reporter der New York Times ist in diesem Sommer extra an den Genfer See gereist und hat die damaligen Lebensbedingungen in dem Luxustempel recherchiert. Er kam zum Schluss, es sei wohl nicht nur Alkohol mit von der Partie gewesen, sondern auch diverse Drogen bis hin zu Opium, das Lord Byron großzügig an die Gefährten austeilte.

Frankenstein als Karnevalsmotiv in Nizza (2004). (Foto: Pascal Guyot/AFP)

Frankenstein mag also durchaus im Rausch geboren sein, von einer jungen Frau, die vor ihren strengen Eltern davongelaufen war, einem atheistischen Philosophen und einer europaweit bekannten Feministin. "Ihr Leben war traumatisch, Selbstmorde und Gewalt gab es häufig in der Familie", meint Professor Spurr. Vielleicht hat Mary Shelley durch das Schreiben von Frankenstein ihre eigenen Traumata in den Griff bekommen wollen: Horror als Selbsttherapie und Flucht.

In der Schauergeschichte geht es um Moral, faustisches Erkenntnisstreben, Philosophie und die Anmaßung, ins Leben einzugreifen

Ein attraktiver Stoff ist Frankenstein auch für die Kunst. Plötzlich erscheint das Wesen als Frau, die "Kreatur" aus feministischer Sicht, als Alter Ego von Mary Shelley. Die kanadische Bestsellerautorin Margaret Atwood hat dazu ein "Künstlerbuch" veröffentlicht - mit einer limitierten Auflage von 15. Eines davon ist von Dezember an im Genfer Museum für Archäologie und Geschichte in der Ausstellung "Die Rückkehr der Finsternis. Gotische Bildwelten seit Frankenstein" zu sehen.

Dabei darf natürlich auch der Vampir nicht fehlen, dessen literarische Geburt ja mit der Frankensteins zusammenfällt und der gleichsam Frankensteins Zwilling wird: Beide entstehen in der Villa Diodati, beide bevölkern gotische Bildwelten, nach dem englischen Wort gothic für düster, schaurig. Beide haben einen Langzeiteffekt auf Leser und Kinogänger. Und beide spielen mit den Ängsten der Konsumenten. Frankenstein trifft dabei die Endzeitstimmung der Fünfzigerjahre, er verschmilzt mit der drohenden Apokalypse, er wird zum dunklen Helden der Klimakatastrophe.

Die amerikanische Künstlerin Karen Kilimnik malt 2001 "Mary Shelley Writing Frankenstein" mit spitzen weißen Brüsten und einer Figur, die von dunklen Lippen umhüllt ist. Und für die US-Malerin Dana Schulz wird Frankenstein zum letzten Menschen, der einsam im Meer treibend, die Menschheit überlebt hat - gleichsam die weibliche Stimme der Finsternis. Schließlich heißt Mary Shelleys letztes Buch "The Last Man" und handelt vom Weltuntergang und dem letzten Überlebenden.

Vielleicht hat das Monster ja auch mit uns mehr zu tun, als wir glauben. "Frankenstein" ist alles andere als eine simple Schauergeschichte. Das Buch benutzt die Struktur des Schauerromans als Erzählgerüst. In Wirklichkeit geht es um Moral, faustisches Erkenntnisstreben, Philosophie und die Anmaßung, ins Leben einzugreifen, so wie heute die Genetik. Natürlich spielt auch die Psychologie eine Rolle. Das Monster könnte für all das Furchtbare, Ungeliebte und Unheimliche stehen, das in uns steckt, ein Teil unserer Persönlichkeit, den wir abgespalten und verdrängt haben. Frankenstein wäre dann das, was wir an uns nicht wahrnehmen wollen und nicht ertragen können, es also auslagern.

Anders gesagt: Das Monster ist in uns. Es kann jederzeit ausbrechen. Das Monster sind wir.

Ausstellung "Die Rückkehr der Finsternis. Gotische Bildwelten seit Frankenstein." Musée Rath, Genf, noch bis 19. März 2017 (www.mah-geneve.ch).

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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