Roman von György Dragomán:Kinder des Schreckens

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György Dragománs Roman "Der Scheiterhaufen" verwandelt die politische Geschichte Osteuropas in ein Gespenstermärchen. Seine Heldin ist eine 13-jährige Waise.

Von Lothar Müller

Es gibt in der Literatur die schrecklichen Kinder und die Kinder des Schreckens. Die schrecklichen Kinder zündeln und treiben bösen Schabernack, bringen Lehrer zur Weißglut, Greisinnen zu Fall und herrschen grausam über ihre Spielwelten. Als Störenfriede strenger Ordnungen erreichen sie ihre höchste Bestimmung, nicht selten getarnt als Handpuppen der Erzieher, wie im "Struwwelpeter". Eine ihrer großen Zeiten war das 19. Jahrhundert, als sie zugleich gegen die schwarze Pädagogik und die Verklärung der Kindheit zur Idylle wüten konnten.

Die Kinder des Schreckens sind das stille Gegenüber der schrecklichen Kinder. Sie schlagen nicht um sich, sie werden geschlagen und schlagen nur in seltenen Fällen, in äußerster Not zurück. Oder in ihren Träumen. Oft wortkarg und nach innen gekehrt, gehen sie durch die Ruinen zerstörter Familien, die Flure der Institutionen, die Rituale der Erziehung. Gern tragen sie die Tarnkappe der Unscheinbarkeit, sie schreien den Schrecken nicht heraus, sie nehmen ihn in sich auf. Sie haben eine feine Witterung für ihn, sind ganz Auge, ganz Ohr, Zeugen, denen nichts entgeht.

Kinderstimmen als Ich-Erzähler

Der Schriftsteller György Dragomán ist 1973 in Siebenbürgen geboren, als Kind der ungarischen Minderheit in Rumänien, in einer Stadt, die in den Lexika drei Namen führt: Târgu Mureş, Marosvásárhely, Neumarkt am Mieresch. 1988 übersiedelte er mit seiner Familie nach Ungarn, das Ende der Herrschaft Ceaușescus hat er als Jugendlicher aus der Ferne verfolgt.

Im Rückblick auf seine Herkunftswelt ist György Dragomán zum Schriftsteller geworden. Das fiktive Transsilvanien, das er in seinem Werk entwirft, geht aus Kinderstimmen hervor. Sie sind die Ich-Erzähler seiner Romane "Der weiße König", der im Original 2005, bei uns 2008 erschien, und "Der Scheiterhaufen" (2014), der nun pünktlich zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch vorliegt.

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Ein elfjähriger Junge war in "Der weiße König" die Erzählerstimme. Sie sprach aus dem Jahr 1986 heraus, in dem Radioaktivität aus Tschernobyl den Rasen auf dem Schulsportplatz durchtränkte und sich die Reise des Vaters zu einer Forschungsstation am Meer als Deportation in ein Arbeitslager erweist, die Mutter vom Geheimdienst bedrängt wird und zu den Spielen des Jungen das "Hausdurchsuchungsspiel" gehört.

Die Eltern, heißt es, seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen

Nun, in "Der Scheiterhaufen", ist das Kind älter, 13 Jahre, und es ist ein Mädchen. Emma ist eine Waise, ihre Eltern, heißt es, sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. In dem Internat, in das sie geht, gibt es an der Wand über der Tafel drei rechteckige helle Flecken, sie sind die Leerstellen, die der "Genosse General" und die ihn umgebenden Parolen hinterlassen haben. Als der Blick des Mädchens auf die Flecken fällt, ist die Erinnerung sofort da:

György Dragomán: Der Scheiterhaufen. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 498 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro. (Foto: Suhrkamp Verlag)

"Ich sehe das Gesicht des Genossen General im Fernsehen, wachsgelb und blutig liegt es im grauen Schlamm, und jemand holt einen großen gelben Bronzepokal aus der Vitrine, den die Schüler des Internats im Friedenswettbewerb gewonnen haben, und der Pokal fliegt, sich in der Luft drehend, gegen den Bildschirm, auf dem das blutüberströmte Gesicht des Genossen General funkelnd zerspringt, und dann rennen wir durch die Räume und Klassenzimmer und Stuben und reißen die Bilder und Aufschriften von den Wänden, das Krachen der Bilderrahmen und das Klirren von Glas und das Ritschratsch der Pappen dröhnt mir noch in den Ohren, und da war der Scheiterhaufen auch schon fertig ..."

Es gibt unter den jüngeren europäischen Autoren kaum jemanden, der mit so großer Konsequenz Kinder des Schreckens ins Zentrum seines Werks stellt wie György Dragomán. Seine Erzählerfiguren sind aus historischer Erfahrung geboren, aber sie sind keine Zeitzeugen. Daten, Ortsnamen, Deck- und Klarnamen erfährt man von ihnen nicht. Denn sie erzählen zwar aus historisch-politischen Welten heraus, aber sie sind nicht ganz von dieser Welt, sie hören Stimmen, sehen Geister, begegnen leibhaftigen Dämonen, Zwitterwesen, die mit einem Bein im Jenseits stehen, ohne je das Diesseits zu verlassen.

Darum war der weiße König aus Elfenbein ein magisches Objekt aus Afrika, eine Kraftquelle des Jungen, der für seine Mutter kämpfte und in den Gewaltorgien der Jugendbanden zum Schreckenskind werden musste. Und darum bleibt nun der Scheiterhaufen, aus dem der Genosse General herauslächelt, nicht der einzige Scheiterhaufen. Die alte Frau, die sich als seine Großmutter ausgibt und das Mädchen aus dem Internat in ihre Stadt holt, wird einen zweiten Scheiterhaufen errichten, aus Nussbaumzweigen, alten Zeitungen und Kleinholz. Das wird eine magische Zeremonie sein, bei der das Mädchen auf die Zweige schreibt, wovon es sich befreien will und was es sich besonders wünscht.

Aus Dingen und den in ihnen verkörperten Wünschen, Ängsten und Schrecken gewinnt György Dragomán den dunklen Glanz der Prosa, den er seinen Kinderstimmen in den Mund legt. Aus Eheringen und Schmuckspangen, aus Rasiermessern und Holzvögeln, aus Bügeleisen und Zigarettenpapier, Uhren, Dosen und Spiegeln. Die Alltagsgegenstände saugen die Ereignisse und die Sprache der Zeitgeschichte in sich auf, wie die Familiengeheimnisse die Herrschaft des Verdachts nach dem Ende der Diktatur: War der Großvater ein Spitzel, hat er sich erhängt oder ist er gelyncht worden? Oder war die Großmutter selbst, zum Schutz ihres Mannes, Zuträgerin des Geheimdienstes? Und war der Tod der Eltern wirklich ein Unfall?

In den Särgen der Toten liegen die Akten

Nie tritt die politische Geschichte in den Hintergrund. Emmas Schulfeindin (sie wird es nicht bleiben) hat ihre Zwillingsschwester verloren, als bei der großen Demonstration vor den Gebäuden der Macht und des Geheimdienstes in die Menge geschossen wurde. Aber die Toten der Geschichte, die damals heimlich entsorgt werden, machen sich selbständig, in ihren leeren Särgen werden am Ende die angeblich verschwundenen Akten auftauchen, in denen die Macht von sich selber erzählt.

Die junge Erzählerin, das traumnahe Kind des Schreckens, das unter Familienverdacht steht, sich zäh behauptet und eine hinreißende Liebesgeschichte erlebt, ist die Tochter eines Malers und eine begabte Zeichnerin. Das Präsens, in dem sie erzählt, ist mit ihrer Nähe zu den Bildern im Bunde. Ihr Autor hat einmal gesagt, am Ursprung seines Schreibens stehe die seit der Kindheit beibehaltene Gewohnheit, erlebte Situationen detailliert aufzuzeichnen.

Diese Prosa wirbelt die Vergangenheit auf

Und zum anderen die in der Teenager-Zeit erworbene Fähigkeit, auf Raubkopien von VHS-Kassetten kursierende fremdsprachige Filme, ob Arthouse oder B-Movie, live zu dolmetschen und am nächsten Tag den Schulkameraden nachzuerzählen. Die Übersetzung von Literatur, etwa von Samuel Becketts "Watt" oder "Trainspotting" von Irvine Welsh, kam hinzu.

Die Prosa György Dragománs wirbelt die Zeitgeschichte auf und erobert ein Stück Europa in der Umbruch- und Schreckenszeit um 1989/90 für die Literatur: als Bildersturm aus Kindermündern, der den Roman dem gängigen Realismus entführt. Der Übersetzer Lacy Kornitzer ist ein großer Stilist und diesem Sturm jederzeit gewachsen. Darum ist "Der Scheiterhaufen" nun auch auf Deutsch ein Ereignis.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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