Theater:Verhört

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Daniel Kehlmann hat für das Wiener Theater in der Josefstadt ein neues Stück geschrieben. Es heißt "Heilig Abend" und ist ein Thriller ohne Thrill.

Von Wolfgang Kralicek

Fällt ein Baum wirklich um, wenn es keiner sieht? Die Frage überrascht, denn wir befinden uns nicht in einem philosophischen Seminar, sondern in einem Verhörraum. Eine Philosophieprofessorin mit linksradikaler Vergangenheit wurde am Heiligen Abend verhaftet, weil sie unter Terrorverdacht steht. Auf ihrem Computer wurde ein Bekennerschreiben zu einem Anschlag sichergestellt, der am 24. Dezember zu Mitternacht stattfinden soll. Wenn das Stück beginnt, ist es 22.32 Uhr, die Zeit drängt also. In seinem dritten Theaterstück "Heilig Abend" kombiniert Daniel Kehlmann zwei Thriller-Standards: das Verhör und den Countdown. Er sei ein Fan von Fred Zinnemanns Filmklassiker "High Noon", schreibt er im Programmheft. "So etwas wollte ich auch machen, immer schon."

Im Wiener Theater in der Josefstadt, wo das Stück in einer Inszenierung von Intendant Herbert Föttinger uraufgeführt wurde, kommt allerdings keine rechte Spannung auf. Erstens weiß man als Zuschauer bis zuletzt nicht, wie ernst die Bombendrohung überhaupt zu nehmen ist. Und zweitens ist der Dialog zwischen Kommissar (Bernhard Schir) und Verdächtiger (Maria Köstlinger) eher ein Flirt unter Alphatieren als ein Verhör. Statt glaubhafte Figuren zu zeichnen, lässt Kehlmann sie Platon ("Besser Unrecht leiden als Unrecht tun") und den revolutionären Theoretiker Frantz Fanon ("Die Verdammten dieser Erde") zitieren; es geht ihm offenbar weniger um Thrill als um ein paar grundsätzliche Fragen. Gibt es gerechten Terror? Was ist schlimmer, der Dschihadismus oder die Maßnahmen, die der Staat dagegen ergreift? Und natürlich: Fällt ein Baum wirklich um, wenn es keiner sieht? Die Antworten bleiben offen, das Ende auch. Denn kurz, bevor die Digitaluhr auf der Bühne auf 0.00 springt, ist das Stück aus. Hoffentlich kommt jetzt niemand auf die Idee, bei Daniel Kehlmann ein "Tatort"-Drehbuch zu bestellen.

© SZ vom 06.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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