Theater:Ungeheuerlich

Theater: Dennis Herrmann schaut auf das Meer aus Babypuppen.

Dennis Herrmann schaut auf das Meer aus Babypuppen.

(Foto: Diana Küster)

Elfriede Jelineks Flüchtlings-Stück "Die Schutzbefohlenen" ist am Schauspielhaus Bochum ein richtig guter Abend.

Von Martin Krumbholz

Jelineks Stück über die Flüchtlinge, ein langer Monolog, vage angelehnt an Aischylos' Drama "Die Schutzflehenden", ist keine Novität mehr. Im Prinzip ist der Text bereits vor drei Jahren entstanden, vor der Zuspitzung der Krise 2015; mehrere Epiloge, Codas, Appendizes, aus aktuellen Anlässen hinzugefügt, verdoppelten die ohnedies inkommensurable Textmasse noch einmal. Und doch hat man nach der jüngsten Aufführung am Bochumer Schauspielhaus das Gefühl, das ganze Stück zum ersten Mal gesehen zu haben - das Stück "Die Schutzbefohlenen/ Appendix/ Coda/ Epilog auf dem Boden", das ist nicht mal der vollständige Titel -, und zwar als Spielvorlage im besten Wortsinn. Der Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer befreit den in jedem Sinn ungeheuren Text aus dem Korsett der Philologie. Er macht Theater daraus, Theater total, und wäre es nicht egal - weil es der Autorin erklärtermaßen egal ist -, könnte man sagen: So muss Jelinek es gemeint haben.

Eine ungeheure Idee beherrscht das Szenenbild von Thilo Reuther: Hunderte, nein Tausende winzige Babypuppen fallen aus dem Schnürboden und fluten die Bochumer Kammerspielbühne. Es hört nicht auf. Mal scheppern sie auf den Boden, weil sie aus Plastik sind, mal landen sie lautlos, da aus Schaumstoff. Sie setzen sich in den Fugen und Ritzen der Bühne, in Krägen und Dekolletés fest. Diese Metapher für das Elend der Flüchtlinge ist atemberaubend. Ob zweien der Babys fürs Live-Video blutig die Köpfe abgesäbelt werden oder ob die Requisite vor der Pause die Puppenflut ungerührt zusammenkehrt und in Kartons füllt, man kommt der Evidenz dieses frappierenden Bildes nicht aus. Es dringt eher langsam ins Bewusstsein, weil der Abend so schnell und so kurzweilig ist, aber es wirkt nach. Es ist stärker als der Text, und selbst das (siehe oben) könnte Jelinek so gewollt haben. Denn ihr Monolog hat schon aufgrund seiner schieren Quantität und Redundanz nicht die schneidende Kraft eines einzigen scharfen Bildes.

Das Bewundernswerteste an diesem Abend aber sind das Engagement, die Ausdrucksskala, die Virtuosität ausnahmslos aller sieben beteiligten Schauspieler. Den Widerspruch zwischen der Ungeheuerlichkeit des Verhandelten und der schieren Unterhaltsamkeit der eingesetzten Theatermittel, von der Comedy über die Dauerberieselung mit (Kommerz-)Videos bis hin zu Grand Guignol und obszöner Trash-Komik, diesen Widerspruch können die Schauspieler nicht auflösen. Aber wann hat man das Bochumer Ensemble zuletzt so groß in Form gesehen? Im Chor gesprochen wird, gottlob, überhaupt nicht. Jeder ist Solist. Dabei helfen auch die Kostüme von Michael Sieberock-Serafimowitsch, Fantasie-Rokoko, hochtoupierte Frisuren, japaneske Gewänder, Abendanzug, stilistisch ein wildes Durcheinander, das letztlich nichts erzählt als: Hier wird Theater gemacht.

Jürgen Hartmann legt in seinem Gigolo-Kostüm eine hinreißende Macker-Parodie hin ("Isch bün der Jürgen aus Marokko"), steigt ins Parkett und auf die Stühle und drückt den Theaterbesuchern Schrägstrich Staatsbürgern die allfälligen Klischees ("Weißt du was, das hab' isch von der Domplatte") rotzfrech auf den Schoß. Dennis Herrmann kann nicht nur brillant Österreichisch, er hat auch lustige Pegida-Persiflagen in astreinem Sächsisch auf Lager. Veronika Nickl singt Anna Netrebko, die vor zehn Jahren mit Kusshand als Österreicherin eingebürgert wurde, damit sie ohne Umstände immer schön nach Salzburg reisen kann ("Wie viele Syrerinnen ist eine Netrebko wert?"). Es ist, als ob die urmenschliche Lust am Rollenspiel (das Jelinek übrigens ablehnt, daher die Textflächen) sich brachial Bahn bräche. Unbekümmert wechselt die Inszenierung vom empörten Appell (Roland Riebeling echauffiert sich wunderbar über die Doppelmoral der selbsternannten Abendländer) hinüber in Jelineks Ironie-Kosmos, in dem beispielsweise der kleinasiatische/afrikanische Stier (in der Mythologie: Gott) und eine mehr oder weniger willige "Europa" zum Leitmotiv werden. Wenn all die Zuspitzungen, Kalauer, Assoziationsketten den Zuschauer methodisch überfordern, ist das kein Problem mehr. Eine Jelinek-Performance, das hat sich längst "eingebürgert", ist oft auch Jelinek-Parodie. Es gibt hier keine Naivität, keine Unschuld und auch keine Andacht gegenüber dem Text.

Es geht kaum darum, aufzuklären, zu schockieren oder zu moralisieren. "Ich schaff das nicht mehr", das darf eine erschöpfte Xenia Snagowski ungeniert sagen, ohne dass es als Statement überbewertet würde. Ratlosigkeit braucht niemand zu verhehlen. Einverständnis mit der humanen politischen Haltung der Inszenierung wird dabei umstandslos vorausgesetzt: "Wer zahlt schon 30 Euro für ein Jelinek-Ticket", heißt es, "und geht anschließend hin und wählt AfD?"

Unterm Strich nimmt Schmidt-Rahmer Jelineks Lizenz, mit ihren Texten zu verfahren wie man will (und kann), ernster als andere. In Bochum werden seit je alle Aufführungen, auch die mittelmäßigen, bejubelt; diesmal geschieht es zu Recht. Langsam geht nun Anselm Webers Zeit als Intendant ihrem Ende entgegen. 2018 übernimmt Johan Simons, der Leiter der Ruhrtriennale, die Nachfolge. Ein Jahr lang soll zuvor Olaf Kröck, derzeit Chefdramaturg, das Haus interimistisch leiten. Es kursierte bereits das Gerücht, mit Simons' Pensionierung werde dann das Bochumer Schauspielhaus geschlossen. Johan Simons, ein barocker Geist mit Sinn für Humor, hat darüber sehr gelacht. Im Ernst kann man sich dergleichen ja auch kaum vorstellen.

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