Theater:Tee mit Beleidigung

Vom Stummfilm-Melodram zum Horrorvideo: Anna Bergmann inszeniert Schillers "Maria Stuart" in Essen.

Von Martin Krumbholz

"Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe", hört man einen englischen Lord sagen. "Dies heutge England ist das künftge nicht", fährt der gute Mann fort: "wie sich die Neigung anders wendet, also steigt und fällt des Urteils wandelbare Woge." Wohl wahr, denkt man, besser könnte man die Lage nach dem Brexit nicht auf den Punkt bringen! Zwar gab es zu Zeiten von Elisabeth und Maria Stuart noch keine EU. Doch etliche politische Konflikte, etwa zwischen Briten und Schotten, nahmen sich 1587, als die englische Königin ihre Rivalin hinrichten ließ, schon fast so aus wie heute, da alles in einen anderen globalen Zusammenhang gerückt ist.

Der Brexit ist natürlich nicht das Thema, nicht einmal das Subthema der Essener Schiller-Inszenierung von Anna Bergmann. Nicht um die Balance der ökonomischen Verhältnisse geht es, sondern, beispielsweise, um Katholizismus und Protestantismus. Um Stolz und Eitelkeit. Um zwei starke Frauen und ihre windelweichen Männer, die teilweise die nämlichen sind. Das Stück gibt viel her, nicht zuletzt eine ausgetüftelte Thriller-Dramaturgie und scharfsinnige Dialoge. Wo allerdings genau die Regisseurin den Hebel ansetzt, um das heutige Interesse am Stoff (und seiner Form) zu schärfen, lässt sich nicht so ohne Weiteres bestimmen. Das ist keine Frage des "Zugriffs", wie es im Jargon so schön heißt.

Maria Stuart Essen Janina Sachau

Leidet naturalistisch: Janina Sachau als Maria Stuart.

(Foto: Birgit Hupfeld)

Dass ihr nicht genug einfalle, kann man der Regisseurin nicht vorwerfen. Es ist eher zu viel

Am Zugriff fehlt es nicht. Als Introduktion gibt es, auf der mit zwei schwarzen Portalen bestückten Drehbühne von Florian Etti, eine veritable Stummfilmszene. Die eingekerkerte Maria, gespielt von Janina Sachau, begegnet ihren diversen Bewachern, Beschützern, Möchtegern-Befreiern mit großen Gesten, aber ohne (hörbare) Worte; die Dialoge erscheinen, stark gerafft, als Übertitel. Die Kostüme sind hier noch historisch, Gewänder mit Spitzen und Krägen, im späteren Verlauf werden aber auch moderne Anzüge getragen. Hier wird also nichts bloß Historisches verhandelt. Natürlich werden dann bald auch richtige Schiller-Verse gesprochen. Doch der Comic zu Beginn gibt gewissermaßen die Temperatur vor. Anstelle der zwanzig Figuren des Originals treten nur ganze sechs auf. Dennoch hat man hier nichts im Sinn mit psychologischem Feinschliff oder monologischem Kreisen der (Nicht-)Handelnden um sich selbst und ihre Skrupel.

Die Figuren kommen buchstäblich nicht zum Atmen. Wenn Elisabeth (Stephanie Schönfeld) kundtut, sie dürfe ihr Herz nicht fragen, keucht sie und stockt nach jedem Wort. Wenig später wird Graf Leicester (Thomas Meczele) der "jungfräulichen Königin" kräftig den Po versohlen, und sie stöhnt dazu wollüstig. Leicester ist ihr Schatz, sonst aber platonisch (bei der Stuart ist man sich nicht so sicher). Über das Begehren der Elisabeth (oder das der Stuart) erfährt man gleichwohl nicht viel.

Dass ihr nichts einfalle, kann man dieser Regisseurin nicht vorwerfen. Allerdings ist sie bei der Auswahl ihrer Einfälle nicht sehr wählerisch. Und auch nicht in der Verbesserung der Schiller'schen Dramaturgie. Die zentrale Szene, die (unhistorische) Begegnung der beiden Königinnen, hat Bergmann ihres Höhepunktes beraubt. Die schön drastischen gegenseitigen Beleidigungen als "Gemeine", sprich Hure, und als "Bastard" (was Goethe so ergötzt hat) werden am Ende des letzten Akts bei einem Tässchen Tee nachgereicht. Da ist das Todesurteil schon unterschrieben. Die Absicht ist offenbar, die Isolierung der Hauptfiguren aufzuheben; anders als bei Schiller sind beide Frauen fast ständig szenisch präsent. Sie versetzen einander in Panik wie Fleisch gewordene Albträume. Elisabeth begegnet sich selbst zudem als schönes stummes Kind.

Das scheiternde Attentat auf Elisabeth findet aus dem Saal heraus statt. Plötzlich ein Break, alle Beteiligten scheinen kurz aus ihren Rollen zu fallen. Mortimer, der verrückte, in die Stuart verschossene Katholik und Rebell (Philipp Noack) wird nach dem Scheitern seiner Pläne von Leicester gekillt. Später, wenn Elisabeth das Urteil unterschrieben, aber nicht ausdrücklich freigegeben hat, fällt der Körper des Hardliners Burleigh (Axel Holst), der das Dokument haben will, in hübscher Slapstick-Manier auf den des Weicheis Shrewsbury (Jens Winterstein), der es nicht herausrücken will.

Den Schluss, also Marias Hinrichtung, hat Anna Bergmann dann wieder aktualisiert. Statt Schafott: Giftspritze. Hautnah zu erleben im Live-Video und in Großaufnahme. Janina Sachau muss sehr, sehr naturalistisch leiden. Endlich hat die Regisseurin ihre Mittel erschöpft. Vom Stummfilm-Melodram zum Rollendiskurs, vom Wams zum Nadelstreifen, vom schulmäßigen Fechten zum Horrorvideo: Das ist denn doch ein bisschen viel auf einmal.

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