Theater:Morgengrauen für Mephisto

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Erstmals läuft Frank Castorfs siebenstündige "Faust"-Inszenierung als All-Night-Spektakel zwischen Mitternacht und Morgengrauen.

Von Rudolf Neumaier

Mit dieser Sitznachbarin kann man es schon mal aufnehmen. Wer bleibt länger wach? Die Dame links nebenan stellt sich als 80-Jährige vor. Wie viele "Faust"-Inszenierungen sie schon gesehen hat? Ach, einige. Allerdings noch keine, die um 23 Uhr angefangen und sieben Stunden gedauert hat. Doch was soll's, wenn man Karten bekommt, muss man flexibel sein. Die Berliner Volksbühne ist ja ständig ausverkauft. Jeder will noch mal da gewesen sein, bevor der Theaterschöpfer Frank Castorf und seine Künstler gehen und der Museumsmann Chris Dercon kommt. Wenn sie erst um 2 Uhr morgens beginnen würden, wäre die Hütte auch rappelvoll. Dieses Theater ist verrückt nach Grenzerfahrungen, und seine Zuschauer sind es ebenfalls, auch - mit Verlaub - die 80 Jahre alte Frau.

Ein paar gesetztere Herrschaften rundherum haben gegen 0.30 Uhr einen toten Punkt. Man kennt das: Erst werden die Augenlider schwer, dann der Schädel. Die Dame nebenan hingegen denkt nicht daran schlappzumachen. Sie wirkt genauso theaterhungrig wie die Mittzwanzigerinnen, die dutzendweise in der Volksbühne sitzen und offenbar so gar nicht die Meinung von Dercons Programmgestalterin Marietta Piekenbrock teilen, wonach die Volksbühne immer wieder eine latent frauenverachtende Grundeinstellung offenbare. Allerdings muss man dazusagen, dass die Rentnerin nicht alles versteht, was und wie sich das auf der Bühne abspielt. Wer behauptete, Castorfs Inszenierungen komplett zu verstehen, noch dazu dieses demontierte und zu einem Geschichts- und Kolonialdrama umgebaute Literaturdenkmal "Faust", wäre völlig übergeschnappt. Die Filme, fragt diese wunderbare wache Frau um 1.40 Uhr, die da auf der Leinwand gespielt werden, sind diese Filme denn alle aufgenommen? Nein, die werden auf der Bühne in einem der Kabuffs dieses Höllenspelunken-U-und-Geisterbahn-Bauwerks auf der Bühne von sehr fähigen Kamera- und Tonleuten aufgezeichnet und live übertragen. Andernfalls wäre das Ganze ja eher Kino - bei Video-Spielanteilen von schätzungsweise 80 Prozent. "Ah", sagt sie, "so ist das. Danke."

Mit Auftrittsapplaus gibt es in dieser magischen Nacht am Rosa-Luxemburg-Platz die Schauspielerin Valery Tscheplanowa zu feiern. Zum einen hat sie vor der Vorstellung von der Akademie der Künste den Großen Kunstpreis Berlin erhalten, dotiert mit 15 000 Euro. Und was das Publikum noch viel mehr begeistert: Tscheplanowa tritt mit dicker Kniemanschette auf - sie hatte sich in der vorletzten Vorstellung das Kreuzband gerissen. Sie spielt das Gretchen aus "Faust I" und die Helena aus "Faust II" mit Schmerzen, aber sie spielt. Und wie! Am gesunden Bein trägt sie High Heel, mit dem verletzten humpelt sie barfuß. Sieben Stunden, eine ganze Theaternacht lang. Auch eine Grenzerfahrung.

Faust rülpst sein "Habe nun, ach" wie ein Drogenrausch-Aphoniker

Die wachsten Momente hat das Publikum bei den Szenen, in denen Frank Castorf Originalpassagen aus Goethes Faust spielen lässt. Zum Höhepunkt der Nacht, weil da alle wieder munter werden wie die 80-Jährige, kommt es gegen 1.50 Uhr. Die Dame weiß, warum diese Szene am besten ankommt: "Die sprechen normal und schreien da nicht so wie die anderen." Sophie Rois als Hexe hat Martin Wuttke, dem Faust, ein Zaubergetränk verabreicht: Das Doktorchen rülpst sein "Habe nun, ach" in die Welt wie ein Drogenrausch-Aphoniker. Rois und Wuttke tanzen zu einem Lied von Sir Henry, dem Hausmusikanten der Volksbühne. "Home in Pasadena", singt er. "Beneath the plams in someone's arms" - und ein Pas de deux dazu, fein. Die Soundtracks haben die Volksbühnen-Abende immer wieder zu Hörereignissen gemacht. Castorf sollte noch CDs pressen. Oder eben dann Dercon, wenn er eine Geldquelle braucht und wenigstens ein Andenken aus der großen Ära retten will. Das Räuberrad vor dem Theater, Markenzeichen des deutschsprachigen Avantgarde-Theaters schlechthin, wollen sie ihm auf keinen Fall überlassen. Und spielen wollen Castorfs Schauspieler ohnehin nicht unter Dercon.

Gegen das Durchhaltevermögen der 80 Jahre alten Sitznachbarin ist nichts auszurichten. Nach der Pause lässt Castorf erst mal viel schreien, aber kaum Goethe-Text. Gegen 4.30 Uhr wird die Frau ungeduldig, sie weckt mich mit einer Frage: "Wissen Sie denn, wann wieder Faust gespielt wird?" Schwer zu sagen, müsste eigentlich bald wieder losgehen. Um 5.57 Uhr ist die Vorstellung vorbei. Es brandet ein Getöse auf, wie wenn Schulklassen das erste Mal ein Theater besuchen und ein Musical bejubeln. In die Kantine kommen die Künstler danach frisch wie aus dem Ei gepellt. Sie trinken keinen Kaffee, sondern Bier. Verrückt. Draußen ist es hell. Sir Henry klimpert Ragtimes. Einen nach dem anderen.

© SZ vom 20.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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