Theater:Mach doch einen Blog!

Theater: Nie ohne meine Webcam! In der "Volksfeind 2.0"-Fassung am Schauspielhaus Zürich strampeln sich alle ganz schön ab.

Nie ohne meine Webcam! In der "Volksfeind 2.0"-Fassung am Schauspielhaus Zürich strampeln sich alle ganz schön ab.

(Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Vom Nutzen und Schrecken der E-Demokratie: Dietmar Dath hat Ibsens "Volksfeind" für das Internetzeitalter bearbeitet. In Zürich wird daraus ein Digital-Spektakel.

Von Charlotte Theile

Für all jene, die glauben, als einzige die Wahrheit zu kennen, sind mit dem Internet goldene Zeiten angebrochen. Unzählige Chatrooms, Foren und Blogs bieten die Möglichkeit, die eigene Sicht der Dinge großflächig auszubreiten. Die Anschläge vom 11. September als bloße Inszenierung, der Islamische Staat im Begriff, die Herrschaft in Europa zu übernehmen . . . Die Gegenöffentlichkeit gibt es längst, jeder kann sich sein Weltbild bestätigen oder auf den Kopf stellen lassen.

Doktor Tomas Stockmann, Badearzt einer norwegischen Kleinstadt und Hauptfigur von Henrik Ibsens Drama "Ein Volksfeind" aus dem Jahr 1882, sollte damit ein leichtes Spiel haben. Zumindest in der Neufassung des Stücks am Schauspielhaus Zürich. Der Science-Fiction-Autor und Journalist Dietmar Dath hat das frühe Ökodrama in die digitale Gegenwart übertragen, und der Regisseur Stefan Pucher macht daraus ein poppiges Hipster-Spektakel: weiße Rennräder, Sechzigerjahre-Frisuren, schicke Laptops, Smartphones, gut gebügelte Bundfaltenhosen. Jede Bewegung auf der Bühne findet gleichzeitig auf mindestens einem Bildschirm statt, groß und bunt werden die Gesichter auf die Leinwand projiziert, Fisch-Optik, Selfie-Style.

In dieser smarten Welt, dem selbst ernannten "Städtchen mit der fortschrittlichsten Kommunalverwaltung aller Zeiten", einem grün-weißen 3-D-Modell, das per Webcam riesig auf dem Bildschirm erscheint, wird alles öffentlich. Transparenz durch E-Government und einen demokratischen Musterblog. Ältere Theaterbesucher wundern sich über Crowdfunding, Cross-Border-Leasing und Stockmanns Söhne, die nicht mal vom Laptop aufschauen, wenn sie verkünden: "Ich möchte später Islamist werden." Dazu Musik von Becky Lee Walters, Elektro-Pop und Roboter-Moves zu Ehren der E-Demokratie.

Im Foyer stehen die aufrechten Demokraten. "Die Mehrheit ist dumm", sagt ein Schüler

Der Plot unterscheidet sich nicht wesentlich von Ibsens Original: Stockmann (am Anfang nüchtern, später zunehmend wahnsinnig: Markus Scheumann) hat herausgefunden, dass das Wasser des Kurbads vergiftet ist. Schuld daran: Fracking, ein internationaler Konzern. Seine Entdeckung würde die Gemeinde in finanzielle Schwierigkeiten bringen. Stockmanns Bruder Peter, Stadtvorsteher und Schöpfer einer digitalen Musterdemokratie (gespielt vom diesmal eher blassen Robert Hunger-Bühler), will um keinen Preis, dass die Erkenntnisse an die Öffentlichkeit kommen.

Im Original verhindert er, dass die Lokalzeitung die Auswertungen des Bruders publiziert. In der "Volksfeind"-2.0-Version sagt Bloggerin Hovstadt zu Tomas Stockmann: "Mach doch einen eigenen Blog auf." Genau das sollte er tun. Doch Stockmann beruft lieber eine Versammlung ein und beschimpft die Menge. Die Masse, das Städtchen, ist das Publikum. Jeder entscheidet, ob er aufseiten des Mittelstandsvertreters Aslaksen - "Ich kämpfe für die Mäßigung" -, der Blogger und des Stadtvorstehers steht und damit der demokratischen Mehrheit (Uninformiertheit?) folgt. Oder ob er Stockmann in seinem Querulantentum unterstützt. Im Foyer stehen die aufrechten Demokraten, es gibt giftgrüne Drinks. "Die Mehrheit ist dumm", sagt ein Schüler. Stockmann schreit in der Live-Übertragung aus dem Saal: "Alles ist Schwindel, ihr stimmt ab, damit gar nichts anders wird!" Und: "Die Verantwortung des Einzelnen sinkt, wenn er zu mehreren ist."

Im Musterland der direkten Demokratie treffen diese Provokationen einen Punkt: Die Volksinitiative wird zum populistischen Machtinstrument, das Unbehagen darüber ist den Besuchern ins Gesicht geschrieben. "Sollen nur noch die Intelligenten zur Urne gehen dürfen?", fragt Aslaksen. Nicht wenige nicken.

Im letzten Bild schwebt das kunstvolle 3-D-Modell des Städtchens nach oben (Bühne: Barbara Ehnes), tief unten im braunen Gestein wird gefrackt. Stockmann steht mit seiner Familie im leeren weißen Raum, es tropft aus dem Gestein. Pflastersteine liegen herum, die Fenster wurden eingeschmissen, der Vermieter schickt die Kündigung. Aus einer Wahrheit, die niemand hören will, entwickeln sich immer neue Wahrheiten. Stockmann hört längst nicht mehr zu, wenn seine Tochter klug zusammenfasst, es sei nicht nur der Egoismus der Menschen, es sei ihre Abhängigkeit von dem Konzern, der Ärger darüber, dass ihr Selbstbetrug gestört wurde.

Hier trifft die Inszenierung als Internet-Drama ins Schwarze: Stockmann, der Kurarzt mit der fundierten Analyse, mit dem Wissen um die Fakten, wird zum zornigen Troll, zum Herrscher eines Paralleluniversums. Das Geld seines Schwiegervaters, der Aktien der Frackingfirma gekauft hat, um Likes zu bekommen, nimmt er nicht an, lieber soll die Familie in Armut leben. Ganz alleine steht er da. Die Community hat sich gegen ihn gewendet. In einer letzten Aktion ritzt er auf einen echten, analogen Backstein das Wort "Nein".

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