Theater:Letztes Lebewohl

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"Ich mag keine Inschriften auf Grabsteinen": Frank Castorf verabschiedet sich mit einer Dostojewski-Inszenierung endgültig von der Volksbühne.

Von Peter Laudenbach

Frank Castorf findet einfach kein Ende. Seine Aufführungen ziehen sich traditionsgemäß stundenlang, manchmal bis ins Morgengrauen. Gespräche mit ihm gehen so, dass er in der ersten halben Stunde nur lustlos grummelt ("Och... nö... weeß ick ja ooch nüscht..."), um dann, wenn das Gegenüber langsam abschlafft, abzuheben und vom Ende der Geschichte, aktuellen Ehekrächen und Heiner Müller überraschend zu theologischen und philosophischen Fragen zu wechseln.

Kein Wunder, dass auch seiner Intendanz an der Berliner Volksbühne ein Hang zur Maßlosigkeit innewohnt. Sie währte ein Vierteljahrhundert, und wenn es nach Castorf und seinem Publikum ginge, den bescheidenen Rezensenten inbegriffen, hätten es gerne noch fünf oder 50 Jahre mehr sein können. Den Schlussstein dieser tollen und für einige Zuschauer aufs Schönste lebensverändernden und gehirnumkrempelnden Intendanz setzte er im März mit einem "Faust", der es in sich hatte. Der Klassiker war sehr schlüssig mit Iggy Pop, Paul Celans "Todesfuge", dem Aufruf zum antikolonialistischen Befreiungskrieg, Schuberts "Wanderer" und selbstironischem Anti-Sexismus in Form eines kleinen, sabbernden Zwergs assoziiert. Castorfs armes Alter Ego musste auf einem Kinderdreirad die unerreichbaren Brüste einer jungen Frau umkreisen, ein Selbstporträt des Künstlers als ganz alter Mann. Es war wie so oft in der Volksbühne nicht unbedingt ein schöner, aber ein ziemlich lustiger, mindestens doppelbödiger und großartiger Anblick.

Lieber einen bösen Witz machen, bevor Abschiedsschmerz aufkommt

Nach diesem "Faust" konnte eigentlich nichts mehr kommen. Alles war gesagt, die Theatergeschichte war geschrieben und die Messlatte für jeglichen Nachfolger so hoch wie möglich gehängt. Aber wenn alles gesagt ist und Frank Castorf zwischendurch zwei oder drei Wochen frei hat, braucht es halt doch noch ein letztes Lebewohl, eine aus dem Handgelenk gezauberte Inszenierung, vier Wochen vor dem Ende dieser Intendanz. Castorfs nun also wirklich allerletzte Volksbühnen-Inszenierung gilt zwei kurzen, traurigen Erzählungen seines Lieblingsautors Fjodor M. Dostojewski, der Liebesgeschichte "Ein schwaches Herz" und der Zombie-Melancholie "Bobok", in der man den Gesprächen der Toten in ihren Gräbern zuhören darf.

Einerseits ist das natürlich irre eitel und pathetisch - das Ende der Castorf-Volksbühne als Blick in die Gruft, in der sich die Leichen über den Verwesungsgeruch ihrer Nachbarn beschweren und die irdischen Trauergebräuche verspotten: "Ich mag keine Inschriften auf Grabsteinen." Die ganze Inszenierung ist so eine Inschrift auf dem Grabstein der eigenen Legende. Andererseits ist das gerade in der volksbühnentypischen Übertreibung sehr selbstironisch: lieber einen bösen Witz machen, bevor Abschiedsschmerz aufkommt. Aber weil der Sarkasmuspanzer große Risse hat und auch haben soll, werden dann doch Momente von Melancholie sichtbar, wenn Kathrin Angerer mit Vamp-Unschuld sagt, dass "ja doch alles sehr traurig" sei, schließlich "haben wir alle so lange zusammen gelebt". Kann man so sagen. Um die Dialoge aus dem Grab zu spielen, legen sich die Schauspieler einfach auf den Boden. Das passt natürlich gut zu den schwarzen Glitter-Vorhängen, mit denen Bert Neumann in seiner letzten Groß-Installation die Wände von Zuschauerraum und Bühne verhängt hat. Die Bühne (Nina von Mechow) ist nicht wie sonst bei Castorf ein kompliziertes Großkunstwerk-Labyrinth, sondern einfach eine ansteigende Gasse durch den Zuschauerraum, in der sich aus dem Fundus geholte Betten, altmodische Sitzgruppen, Schreibtische und frei im Raum stehende Türen aneinanderreihen. Die Spielweise: irgendwo zwischen Commedia dell'Arte-Bauerntheater, Horrortrip auf ganz schlechten Drogen, Hysterieschüben und Momenten der wahren Empfindung - also eigentlich wie immer, nur leichter, skizzenhaft und provisorisch. Eigentlich hätte dieses Abschiedsgeschenk nur eine schöne Geste und ein letzter Gruß von etwa zwei Stunden werden sollen. Aber dann kam Castorf ins Arbeiten, und es wurden lockere vier Stunden, von denen wie immer mindestens eine zu viel ist.

Ohnehin ist diese Zugabe vor allem eine Liebeserklärung an einige Lieblingsschauspieler: Kathrin Angerer (wer sich in sie nicht verliebt, ist selber schuld), Margarita Breitkreiz, Georg Friedrich, Daniel Zillmann (ein Mann, ein Bauch), der in jeder Hinsicht große Frank Büttner, Sir Henry und natürlich Jeanne Balibar, die sich atemberaubend und mit sehr französischer Grandezza auf dem Kanapee rekelt und am Telefon einen berühmten Regisseur bedrängt ("Isch bin sehr 'artnäckig..."). Der berühmte Regisseur am anderen Ende der Leitung heißt vermutlich Frank Castorf, so viel autobiografische Chuzpe muss sein.

Als Regisseur hat Castorf ein Herz für arme Seelen und verkrachte Existenzen

In Dostojewskis Erzählung "Ein schwaches Herz" geht es um die Sehnsucht nach Liebe und darum, wie der Verliebte von der Schwerkraft der Verhältnisse, also dem Geld, zerstört wird. Der arme Kanzleischreiber Wassja (Georg Friedrich) wollte auch einmal glücklich sein. Das ist ihm nicht gut bekommen, am Ende stürzt er in schreckliche Wahnzustände. Auch wenn er es als praktizierender Zyniker nie zugeben würde, Frank Castorf hat zumindest als Regisseur ein großes Herz für arme Seelen und hoffnungslos verkrachte Existenzen.

Georg Friedrich gibt seinem Wassja inmitten der Assoziationssprünge und lässig verschlampt angerissenen Regieeinfälle der Aufführung eine nüchterne Traurigkeit, eine Art lakonische Verzweiflung: Die geduckte Existenz kommt kurz aus ihrem Panzer, der Mann atmet einen Augenblick das Glück mit seiner bezaubernden Geliebten Lisawjeta (Kathrin Angerer). Danach muss er panisch die pünktlich abzuliefernden Schreibarbeiten nachholen, die er versäumt hat, weil er zum ersten Mal mehr von seinem Leben wollte, als zu funktionieren. Am Ende paradiert er in einem expressionistischen Stummfilm wie ein Patient von Doktor Caligari manisch und ausweglos vor dem berühmten Bert-Neumann-Rad vor der Volksbühne. In einer langen Schlusssequenz wird er in der Zwangsjacke weggefahren, und die Volksbühne wird am Horizont immer kleiner.

© SZ vom 03.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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