Theater:Das Glück der Verlierer

Lesezeit: 4 min

Anrührender Psychopath: Charly Hübner (vorn, mit Josef Ostendorf) spielt einen Serienmörder. (Foto: Sinje Hasheider)

Studio Braun inszeniert in Hamburg Heinz Strunks St.-Pauli-Roman "Der goldene Handschuh". Es verleiht den Säufern Würde - ein Kunststück.

Von Till Briegleb

Wer einmal spät nachts im "Goldenen Handschuh" auf dem Hamburger Berg in St. Pauli war oder die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka ein wenig kennt, dem dürfte es schwerfallen, das wirklich lustig zu finden. Seit diese Kiez-Kneipe direkt an der Reeperbahn 1953 von dem ehemaligen Boxer Herbert Nürnberg eröffnete wurde, ist sie - gemeinsam mit dem gegenüberliegenden "Elbschlosskeller" - die Heimat jener therapeutischen Amnesie, die ein ständiger Vollsuff erzeugt. Obwohl längst auch bevölkert von neugierigen Touristen und Lesern des gleichnamigen Romans von Heinz Strunk, ist dieses beharrlich aller Gentrifizierung widerstehende St.-Pauli-Original vor allem ein Ort des Vergessens für Menschen, die nüchtern wenig zu lachen haben.

Es war das große Kunststück des Humorarbeiters Heinz Strunk, mit seinem 2016 veröffentlichten Roman über den 1976 verurteilten Serienmörder Fritz Honka und die Trinkhalle, in der er seine Opfer kennenlernte, dem unglücklichen Stammpersonal dieser Kneipe eine Biografie geschenkt zu haben - und Stolz und Würde. Gerade indem Strunk ziemlich schonungslos und ohne allzu viel Albernheiten beschrieb, was der soziale Absturz bis an den Punkt eigentlich bedeutet, wo Stolz und Würde keine Bedeutung mehr zu haben scheinen, schuf er einen Ausnahmeroman über den verzweifelten Kampf um Selbstachtung - in dem Serienniederlagen auch zu tödlicher Verrohung führen können.

Wenn die Verzweifelten Sehnsucht quält, darf die Kiez-Nostalgie schon mal ins Komische abgleiten

Dass Strunk nun mit seinen Kollegen von "Studio Braun", Rocko Schamoni und Jacques Palminger, sein einziges ernstes Buch am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg inszenierte, ließ befürchten, nun doch die veralberte Version einer St.-Pauli-Revue präsentiert zu bekommen. Denn die drei Komiker, die ihre Scherze für die Generation Ü 50 mit Subkultur-Vergangenheit schreiben, sind in den bisherigen Selbstinszenierungen eigentlich vor allem dadurch aufgefallen, sich mal mehr, mal weniger treffend lustig zu machen über deutsches Spießertum und moderne Eitelkeiten. Sei es bei der Adaption von Schamonis Roman "Dorfpunks", bei der Revue über den Kremlflieger Mathias Rust oder als "Fraktus", die "Erfinder" des Techno.

Tatsächlich kann das Trio nicht raus aus seiner Haut, so wenig, wie die Hauptfigur, Fritz Honka, es konnte. Strunk, Schamoni und Palminger, verkleidet als operettenhafte Kiez-Proleten der Siebziger, erklären in der Bühnenversion des "Goldenen Handschuhs", die am Samstag Premiere hatte, gleich zu Beginn, worum es in ihrem Teil der Inszenierung gehen wird: Um "Trinken, Vergessen, und keinesfalls was essen", sowie seinen "Aal" in irgendeiner "Dame zu wässern". Nach kurzem Kriegsgeheul, das den traumatischen Hintergrund der Figuren als weltkriegsgeschädigt verdeutlicht, folgen vor allem Sprüche, Doornkaat und Kiez-Nostalgie, etwa mit einem Tanz nach historischen Filmbildern von betrunkenen Frauen und Männern auf der Reeperbahn.

Doch die Sorge, dass die Beschreibung von Honkas Leben in den Siebzigern sich in reinem Blödsinn auflöst, wird mit dem Auftritt von Charly Hübner schnell entkräftet. Der sonst als TV-Kommissar Alexander Bukow wirkende Hübner ist hier der schwer gestörte Frauenhasser, der zusammen mit stinkenden Leichenteilen und Kisten voll Schnaps in einem Loch in Altona hauste und dort versucht hat, obdachlose Frauen zu Sklavinnen zu machen, bevor er sie umbrachte. Hübner konzentriert alles Mitgefühl mit dieser sozial zerrütteten Person, die nach Jahrzehnten erlebter Gewalt und unfassbaren Alkoholkonsums triebmordete, so genial zwingend auf sich, dass der ganze Spaß drumherum eine ganz neue Funktion erhält. Die Honka Horror Picture Show mit viel Musik, Tanz und Übertreibungen, die Studio Braun rund um die Kerngeschichte inszenieren, bekommt die Atmosphäre einer hoffnungsvollen Gegenerzählung.

Hübner spielt den anrührenden Psychopathen ergreifend. Dieser Mann will eigentlich nichts als das Glück des stinknormalen Lebens, geht aber an der Brutalität der Nachkriegsgesellschaft und seinen inneren Zwängen zu Grunde. Mit einer steifen Beherrschtheit und kindlichen Gesten, die im Laufe des Dramas immer weniger überspielen können, dass dieser bleiche, sich hölzern bewegende Mann Fürchterliches ausbrütet und tut, gibt Hübner das angebliche "Monster" als etwas Zuneigungswertes. Fast im Alleingang illustriert er den Verbrecher aus verlorener Ehre in einer besonders grausamen Version. Damit schafft er die seriöse Balance einer gesellschaftskritischen Erzählung. Sie erlaubt es, Kiez-Nostalgie und Alk-Euphorie drumherum als Sehnsucht der Empörten und Verzweifelten komisch werden zu lassen.

Eine Heilsarmee-Live-Band spielt aufputschende Laune-Musik. Mit Josef Ostendorf als irrem Reeder mit Kehlkopfmikrofon, mit Bettina Stucky und Lina Beckmann, die Honkas Opfer mit devoter Teilnahmslosigkeit oder forschem Widerstand spielen und dann durchaus auch mal im Todesklamauk sterben, mit Schlager-Lyrik, viel Sentimentalität und skatologischen Scherzen malen Strunk, Schamoni und Palminger ein sehr zuneigungsvolles Bild von den öffentlich kaum beachteten Menschen, denen die Neonreklamen von St. Pauli die Sterne von Bethlehem waren - oder es noch immer sind.

Ein Kater als Allegorie des morgendlichen Kopfwehs (Jens Rachut) verführt Honka ständig zum Saufen. Michael Weber und Jonas Hien geben degenerierte Pfeffersäcke, die nur für die Gier leben. Und rund um den Tresen, den der Bühnenbildner Stéphane Laimé als großen Aschenbecher mit angeschraubten Urinalen gestaltet hat, damit die Gäste Trinken und Wasserlassen ohne Zwischenstrecke erledigen können, versammeln sich in abgerissenen Mänteln (Kostüme: Dorle Bahlburg) die typischen Kiezgestalten, die bis heute die letzten Refugien des alten St. Paulis bevölkern.

Mit dieser Gleichbehandlung von psychologischem Realismus und soziografischer Ironie gelingt Studio Braun etwas Verdienstvolles. Sie zeigen, dass diese Alkoholiker-Welt nicht nur Elend, Verwahrlosung und Depression vereint, sondern auch Glück, Freude und Heimat. Jeder Mensch hat ein anderes Herdfeuer, das ihn wärmt, und bei manchen ist es eben der Schnaps. Und das zeigt dieser Abend ohne jede bürgerliche Hochnäsigkeit. Das Recht auf Glück gilt auch für Menschen, die sich so zudröhnen, dass sie sich in der Kneipe ihres Vertrauens einpissen. Mal sehen, wie Fatih Akin diese hochprozentige Geschichte erzählen wird, wenn er den "Goldenen Handschuh" als sein nächstes Projekt verfilmt. Die goldene Latte liegt schon mal hoch.

© SZ vom 20.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: