"Sofia's Last Ambulance" im Kino:Ewig unterwegs gegen das unendliche Leid der Welt

Lesezeit: 3 min

Immer nach vorne schauen: Krassi und Mila beim Notarzt-Einsatz in Sofia. (Foto: W-Film)

Wer wissen will, warum die Bulgaren zum Teil mit Gewalt gegen die Erhöhung der Strompreise demonstrieren, der erfährt es in der Doku "Sofia's Last Ambulance". In dem vielfach ausgezeichneten Film erkundet Regisseur Ilian Metev ein krankes Land - vom Rettungswagen aus.

Von Martina Knoben

Die Sitzordnung ist immer gleich. Plamen fährt, er ist der driver, ein Profi hinter dem Steuer, der mit Schnelligkeit und Bravour die Schlaglöcher in den Straßen Sofias meistert. Neben ihm, in der Mitte, sitzt Mila, die Krankenschwester, die ketterauchend, energisch und extrovertiert den menschlichen Kitt darstellt, der die Besatzung des Notarztwagens zusammenhält. An der anderen Fensterseite sitzt Krassi, der Rettungsarzt. In einer amerikanischen Krankenhausserie wäre der weißhaarige, gut aussehende Mann ein Gott in Weiß - einer, der Leben rettet mit kühnen Entscheidungen, und in den sich so manche Patientin und Schwester verliebte.

"Sofia's Last Ambulance" aber ist keine Krankenhausserie, und das Heldenbild, das Ilian Metev in seinem vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm zeichnet, hat mit ehrfürchtig verliebten Schwestern und kühnen medizinischen Entscheidungen nichts am Hut.

Metev hat einen Rettungswagen über zwei Jahre hinweg bei seinen Fahrten durch die bulgarische Hauptstadt Sofia begleitet - hinein in einen postkommunistischen Alltag, in dem das Gesundheitswesen offenbar selbst vor dem Exitus steht. Da gibt es keinen Glamour und keine Hightech, und der gut aussehende Notarzt ist vor allem sehr, sehr müde.

"Sofia's Last Ambulance" kommt ganz ohne Kommentar aus, es gibt keine Interviews, nichts wird erklärt. Die Kamera bleibt meistens im Notarztwagen; nur manchmal geht sie kurz zu einem Patienten mit raus.

Wer jedoch wissen will, warum in Bulgarien, diesem ärmsten Land der Europäischen Union, die Menschen gerade auf die Straße gehen, warum sie zum Teil mit Gewalt gegen die Erhöhung der Strompreise demonstriert haben und so eine Regierungskrise auslösten, erfährt in diesem Doku-Road-Movie viel.

Zunehmend hoffnungslos

Es fehlen Krankenhausbetten, die Funkzentrale der Notärzte ist schon mal 30 Minuten lang nicht erreichbar. Und weil nur 13 Ambulanzen die Millionenstadt versorgen, hört Mila von der Zentrale: "18 Fälle warten noch auf euch." Manchmal dauert es Stunden, bis der Rettungswagen vor Ort ist, und der Patient ist inzwischen gestorben.

Immer nach vorne schauen - diese Aufforderung, die ja meistens aufmunternd gemeint ist, muss man hier wörtlich nehmen, wenn die Kamera, die an der Frontscheibe des Rettungswagens fest installiert wurde, eine labyrinthisch anmutende Stadt durchmisst. Und dieser Zwang zum Nach-vorne-Blicken gilt auch für die Protagonisten, die meist nebeneinander sitzen im Fond des Wagens und auf die nächtlichen Straßen sehen. Manchmal kommen sie nicht zu einem Patienten, weil Hausnummern fehlen oder die Funkzentrale sich nicht meldet.

Ins Privatleben begleitet Metev seine Helden nicht. Sein Film ist eine einzige, zunehmend surreal anmutende Fahrt mit immer neuen Stationen, die nicht nur das Elend des Gesundheitssystems, vielmehr das Leiden eines ganzen Landes offenbart. Dabei sind die Episoden so montiert, dass die Rettungsfahrten zunehmend hoffnungslos anmuten. Wenn es so viel Elend und Leid gibt und so wenig und so schlecht organisierte Hilfe - wie soll man da sein Mitgefühl nicht verlieren.

Metev hatte eine zweite Kamera fest am Armaturenbrett des Rettungswagens installiert und sie abwechselnd auf Plamen, Mila oder Krassi gerichtet. So gelingen ihm intime Beobachtungen, mit Dialogen, wie sie kein Drehbuchautor besser hätte schreiben können.

Einmal pflücken die drei nachts am Straßenrand Birnen. Ein anderes Mal reden sie über die Liebe oder die Neureichen Sofias. Plamen empört sich über eine optische Maschine, die Schneefall simuliert, in einem der Paläste dieser Reichen. Während Menschen wie er nur mit Zusatzjobs überleben können: Rettungsarzt Krassi ist auch Automechaniker, Plamen fährt Taxi und arbeitet als Frisör.

Der Blickwinkel ist natürlich hoch symbolisch: Wir betrachten ein krankes Land vom Notarztwagen aus. Dies im Stil des Direct Cinema, diesem methodischen Saurier des dokumentarischen Kinos, dem man so viel politische Relevanz nicht mehr unbedingt zugetraut hätte. Einfach nur dabei zu sein mit der Kamera reicht ja schon lange nicht mehr, zudem haben die Doku Soaps die Fly-on-the-wall-Methode des Dokumentierens diskreditiert.

Reduktion verstärkt Kraft der Szenen

Nun beweist dieses brillante Debüt des Deutsch-Bulgaren Metev, was für eine Kraft die unmittelbare Anschauung der Wirklichkeit immer noch entfalten kann, wenn nur der Ausschnitt, auf den die Kamera blickt, gut gewählt ist. Hier überzeugt nicht nur der Standpunkt, der Film gewinnt zusätzlich durch seine starke Reduktion. Die Unfallopfer, Drogenabhängigen und Kranken, zu denen das Rettungsteam gerufen wird, sind nämlich nie zu sehen. Das mag an rechtlichen Bedenken liegen, tatsächlich verstärkt es noch die Kraft der Szenen.

Alles ist Echo in diesem Film - aber dieses Echo hallt laut. Etwa wenn Mila auf einen Patienten einspricht, der nicht zu sehen ist, während der schrecklich schlecht gefederte Rettungswagen über Schlaglöcher rumpelt. Es dauert eine Weile, bis wir über Milas Fragen und den matten Antworten aus dem Off begreifen: Da liegt ein Kind, ein Mädchen. Ein Schrank ist auf das Mädchen gefallen, es muss große Schmerzen haben.

Die Fahrt dauert ewig, und bald zuckt auch der Zuschauer bei jedem Schlagloch zusammen. Was es bedeutet, wenn das Geld für Straßenrenovierungen und moderne Krankenwagen fehlt, hat man nach dieser Fahrt begriffen.

Die drei Retter in "Sofia's Last Ambulance" erscheinen als moderne Sisyphus-Gestalten, die - ewig unterwegs - gegen das unendliche Leid dieser Welt anfahren. Warum sie sich das antun? Der Unterschied zwischen einem normalen Menschen und einem Serienmörder, erklärt Plamen, sei der, dass normale Menschen etwas spüren, wenn andere leiden, während Serienmördern jegliches Mitgefühl fehle.

Poslednata Lineika Na Sofia, Bulgarien/Deutschland/Kroatien 2012 - Regie, Buch, Kamera: Ilian Metev. Schnitt: Ilian Metev, Betina IP. Verleih: W-Film, 75 Minuten.

© SZ vom 18.03.2013/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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