Sibirischer Ötzi:Die Eisprinzessin friert

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"Sie fleht um Gnade": Archäologischer Schatz - oder beleidigte Urmutter? (Foto: oh)

Aberglaube im Wahlkampf in Altai, einer Republik der Russischen Föderation: Eine 2500 Jahre alte sibirische Frauenleiche, das sibirische Pendant zu Ötzi, soll wieder begraben werden. Würde sie tatsächlich in der Erde verschwinden, wäre Moskau womöglich beleidigt.

Von Tim Neshitov

Diese Woche wandte sich Akai Kine, ein wortgewaltiger Schamane in der Republik Altai, an die Weltöffentlichkeit. "Verehrte Bürger Russlands und der ganzen Welt", schrieb er im sozialen Netzwerk vk.com, "Die Prinzessin Ootschy Bala, nackt und schutzlos, friert vor unfassbarer Scham, ausgeliefert den Blicken eines gaffenden Publikums. Wer stellt die Leiche seiner Mutter zur Schau? Sie klopft an unsere Herzen, sie fleht um Gnade."

Die Republik Altai ist eine der schönsten und ärmsten Gegenden der Russischen Föderation, sie liegt im südlichen Sibirien an der Grenze zur Mongolei, China und Kasachstan.

1993 gruben hier Archäologen auf einem Plateau die Leiche einer Frau aus, deren Alter auf 2500 Jahre geschätzt wird. Ihr seidenes Hemd, ihr Wollrock, ihre Filzsocken, ihre Perücke mit fünfzehn Holzvögelchen, ihre Tätowierungen (ein Hirsch mit Steinbockgeweih, ein gepunkteter Schneeleopard) sind nur erhalten geblieben, weil in ihr Grab Wasser eingesickert war; die Leiche lag seit der Eisenzeit in Eis eingebettet.

Der Fund war eine internationale Sensation, ein Schatz für Archäologen, Ethnologen, Genforscher. Vermutlich starb die Frau mit Mitte zwanzig, sie war reich, keine Prinzessin, sondern eher eine Priesterin, jedenfalls Skythin, also Angehörige des Nomadenvolks der Skythen, die nichts Schriftliches hinterließen, aber (auch dank einer Erwähnung bei Herodot) bis heute erforscht werden.

"Sie fleht um Gnade": Archäologischer Schatz - oder beleidigte Urmutter? (Foto: oh)

Mit dem heutigen turksprachigen Volk der Altaier hat die Frau nichts zu tun, ihr DNA-Erbe weist auf europide Herkunft hin. Der Ältestenrat der Republik Altai hat sie jedoch zur Urmutter aller Altaier erkoren.

"Sie friert unter kalter Gleichgültigkeit"

Der Ältestenrat führt sämtliche Unbill, die das Volk zu ertragen hat (Erdbeben, Hochwasser, Hagel in Eigröße, Armut und Krankheiten) darauf zurück, dass "die Prinzessin" sich für ihre geraubte Grabesruhe rächt. "Sie friert unter kalter Gleichgültigkeit. Wir bitten euch: Helft uns, die legendäre Frau nach menschlichen Bräuchen zu begraben", schreibt der Schamane Akai Kine.

Es ist Wahlkampf in der Republik Altai, die Altaier machen ein Drittel der Bevölkerung aus (der Rest sind Russen und Kasachen), das Schicksal der Skythin ist zum heißesten Wahlkampfthema geworden.

Der Landesvater Alexander Berdnikow, der wiedergewählt werden möchte, muss einerseits mit weltweitem Protest der Wissenschaftler rechnen, sollte das begehrte Forschungsobjekt unter der Erde verschwinden.

Geld von Gazprom

Wohl noch wichtiger: Er muss mit hochgezogenen Augenbrauen in Moskau rechnen, denn aus Moskau kamen zuletzt umgerechnet sechzehn Millionen Euro, mit denen der Eisprinzessin ein Museum eingerichtet wurde. Das Geld stammt von Gazprom. Der Energieriese will durch die Republik Altai eine Pipeline nach China bauen, und sagt auf diese Art Dankeschön.

Andererseits kann sich Berdnikow keine Verärgerung seiner archaischen Wähler leisten. Vor einigen Jahren strahlte das Staatsfernsehen landesweit einen Dokumentarfilm mit dem Titel "Die Rache der Altai-Prinzessin" aus.

Die Journalisten suggerierten, dass nicht nur etliche Naturkatastrophen mit der Ausgrabung der Eisleiche zu tun haben könnten, sondern auch die blutige Regierungskrise in Moskau 1993 und die Tschetschenien-Kriege.

© SZ vom 22.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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