Pop:In die Gegenwart katapultiert

Lesezeit: 3 min

Vor mehr als vier Jahrzehnten hat die italienische Sängerin Gianna Nannini ihr erstes Album veröffentlicht. Auf ihrer aktuellen Tournee zeigt sie beeindruckend, welche Energie immer noch in ihr tobt

Von Dirk Wagner

Einen kurzen Augenblick lang genießen die Zuschauer ihre bequemen Sitzplätze in der bestuhlten Nürnberger Meistersingerhalle, während sie den klassisch anmutenden Klängen des Streichsextetts auf der Bühne lauschen. Dann rollt ein Rockkommando mit dröhnenden Gitarren und einem wild um sich schießenden Schlagzeug über das friedliche Ambiente und bereitet dem Star des Abends den Weg: Gianna Nannini, die große italienische Rocksängerin, die 1976 ihr erstes Album veröffentlichte, und nun mit einem Hit-Programm auf eine mehr als vierzigjährige Karriere zurückschaut. Das heißt: Eigentlich schaut sie nicht zurück. Vielmehr fasst sie ihre Karriere in ausgesuchten Evergreens zusammen, die sie allesamt in die Gegenwart katapultiert. Hier verschmelzen sie auch wunderbar mit den von ihr ebenfalls aufbereiteten italienischen Schlagern, die Nannini selbst in ihrer Jugend geprägt haben mögen: Sergio Endrigos "Lontano dagli occhi" zum Beispiel, oder Domenico Modugnos "Nel blu dipinto di blu".

Letztgenanntes Lied, das weltweit auch als "Volare" gefeiert wird, wirkt in Nanninis Interpretation wie seine eigene jugendliche Version, die sich von den Klassiker-Fesseln befreien kann. Dabei scheint die Band um den Münchner Bassisten Alex Klier und den einstigen Schlagzeuger von Falco, Thomas Lang, Nanninis Vortrag regelrecht zurückhalten zu wollen. Wie ein Hund an der Leine zerrt ihr Gesang nach vorne. Würde die Band loslassen, Nannini schösse glatt selbst über ihr laut mitsingendes Publikum, das im Übrigen schon beim ersten Song des Abends, der Masturbations-Hymne "America", von seinen Stühlen springt und zur Bühne stürmt.

Unverkennbar: Gianna Nannini verdankt einen großen Teil ihrer musikalischen Prägung den Achtzigerjahren. (Foto: Gerald Jenkins)

Dort tänzelt Nannini ausgelassen, als habe die Schwerkraft es längst aufgegeben, diese Grande Dame des Italo-Pops auf dem wie auch immer gearteten Boden der Tatsachen zu halten. Lediglich der Mikroständer, den die Rocksängerin ab und zu lässig über ihre Schulter wirft, folgt der Erdanziehung wie einst Newtons Apfel. Der Rest in Nanninis Rockshow setzt jedes Naturgesetz außer Kraft. Daran sind auch die großartigen Gitarristen David Tagliapietra und Thomas Festa beteiligt, sowie zwei Chorsängerinnen, die Nannini stimmgewaltig unterstützen. Vor allem aber verleihen die Streicher, obwohl sie in den lauten Passagen in Nürnberg allzu sehr untergehen, der Musik einen herrlich organischen Sound. Wie erhaben echte Geigen klingen, wird insbesondere in den ruhigeren Momenten des Konzerts deutlich, beispielsweise beim instrumentalen Intermezzo "Dea", das die Streicher alleine mit dem Pianisten spielen, bevor Nannini, von ihrer Rockband begleitet, erneut die Bühne stürmt.

Ihren Erfolg, der sich an diesem Abend in Hits wie "Bello e impossibile", "Sei nell'anima" oder Nanninis WM-Beitrag "Un'estate italiana" manifestiert, hatte die Sängerin im Gespräch kurz vor ihrem Nürnberger Auftritt dem 1987 verstorbenen Kölner Produzenten Conny Plank zu verdanken. "Die Neue Deutsche Welle war damals eine europaweite Revolution. Und ich mochte Bands wie Ultravox und DAF. So wurde ich auf Plank aufmerksam, dem ein ganz besonderer Klang gelang. Selbst Synthesizer klangen bei ihm sehr warm und menschlich", schwärmt Nannini über Plank, mit dem sie seit 1982 fünf Alben aufnahm. "Als ich ihn das erste Mal traf, sagte er zu mir, dass es schon eine Janis Joplin gegeben habe und ich nicht versuchen solle, sie nachzuahmen", erzählt Nannini. "Jedes Land hat seinen eigenen Blues", war Planks Lehre, und Nanninis Aufgabe war es, ihre eigene Identität zu finden.

YouTube

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

So habe Plank ihr den europäischen Sound vermittelt, in dem sie nun begleitet von der Creme der deutschen Rockszene 1982 zum europäischen Star avancierte. So hört man auf dem ersten von Plank produzierten Album "Latin Lover" auch den heuer verstorbenen Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit, den Hoelderlin-Bassisten Hans Bäär, der übrigens noch jahrzehntelang in Nanninis Band mitspielen sollte, die Ideal-Sängerin und Produzentin Annette Humpe an den Keyboards und an weiteren Keyboards sogar Annie Lennox von den Eurythmics. Im selben Jahr war Nannini die erste und einzige italienische, wenn nicht gar europäische Künstlerin, sieht man von Großbritannien ab, die im Rockpalast in der Essener Grugahalle auftrat. Der war europaweit im Fernsehen zu sehen. Little Steven, der Gitarrist aus Bruce Springsteens E-Street-Band, spielte im Vorprogramm. Mitarbeiter des WDR erinnern sich noch heute daran, wie der technische Leiter Ernst Höller in jener Nacht zum 17. Oktober 1982 ins Publikum sprintete, um den TV-Monitor wiederzufinden, den die 27-jährige Nannini übermütig ans Publikum verschenkt hatte.

Gianna Nannini, Freitag, 7. April, 20 Uhr, Philharmonie

© SZ vom 07.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: