Osama bin Ladens Vermächtnis:Der Löwe des Dschihad

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Der Al-Qaida-Führer hatte sein ganzes Leben lang nur ein einziges Ziel: die Vermehrung islamischer Macht. Das imponiert vielen in der arabischen Welt nach wie vor - auch wenn sie Terror und Gewalt strikt ablehnen.

Bernard Haykel

Osama bin Ladens Radikalismus war ein Produkt der dysfunktionalen und hermetischen Politik der arabischen Welt. Im Gegensatz zu anderen Dschihadis wie seinem Vize Aiman al-Zawahiri, wurde er nicht in den Folterkammern, jenen sogenannten Fingernagelfabriken, eines autoritären arabischen Staates zum gewalttätigen Islamisten.

Osama bin Laden
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Er kämpfte in Afghanistan gegen die Sowjetunion, wenige Jahre später erklärte er Amerika den Heiligen Krieg: Wie Osama bin Laden zum meistgesuchten Mann der Welt wurde, auf dessen Kopf 50 Millionen Dollar ausgesetzt waren. Das Leben des Al-Qaida-Chefs

Seine ungewöhnliche Biographie ist vielmehr geprägt von einer asketischen Selbstaufgabe trotz enormen persönlichen Reichtums, um ein Leben zu führen, das nur ein einziges, ein politisches Ziel kannte: die Ruhmvermehrung islamischer Macht. Bin Ladens Wandlung vollzog sich zunächst in Afghanistan, später in Saudi-Arabien, bevor sie dann wieder in Afghanistan zu ihrem Ende kam.

Während des Krieges gegen die Sowjets im Afghanistan der achtziger Jahre wurde Osama bin Laden von den pakistanischen und saudischen Geheimdiensten ganz bewusst als arabischer Held eines rechtschaffenen bewaffneten Kampfes gegen den gottlosen Kommunismus aufgebaut. Bin Laden erwies sich als extrem brauchbar, was die Rekrutierung von Kämpfern, die Beschaffung von Geldmitteln und die Propaganda betraf.

Die Mythen der Propaganda

Obwohl er selbst kaum an die Front kam, verkaufte man ihn als "Löwe des Dschihad" (ein schlichtes Wortspiel mit seinem Vornamen Osama, der im Arabischen "Löwe" heißt). Eigentlich war Osama aber nicht mehr als ein Kanal, der die Geldströme aus den Golfstaaten nach Afghanistan leitete. Weil er aber auch von Eitelkeit getrieben war, fing er an, die Mythen der Propaganda selbst zu glauben: Dass er tatsächlich ein großer Held des Islam und eine Schlüsselfigur im Sturz des sowjetischen Reiches sei.

Als er 1990 kurz nach dem Abzug der Sowjets nach Saudi-Arabien zurückkehrte, war Bin Laden dem saudischen Staat gegenüber extrem loyal eingestellt, ja er verteidigte diesen Staat gegen all seine ungläubigen Feinde mit einem geradezu fanatischen Eifer. Ehrgeizig versuchte er, seinen Ruhm in politisches Kapital umzumünzen.

Er gab der saudischen Königsfamilie ungefragt Rat, wie sie die gefürchteten Sozialisten im Südjemen bekämpfen könnten. Dann bot er an, seine arabisch-afghanischen Veteranen könnten das Königreich gegen Saddam Husseins Armee verteidigen. Saddam war da gerade in Kuwait einmarschiert und drohte, seinen Vormarsch bis nach Saudi-Arabien fortzusetzen.

Doch trotz des Reichtums seiner Familie galt Osama bin Laden in Saudi-Arabien gesellschaftlich gesehen als Mann niederen Standes, weil er aus keinem der saudischen Stammesgeschlechter stammte. So informierten ihn die Saudis - immer auf ihre strengen gesellschaftlichen und politischen Hierarchien fixiert -, dass er sich bitte aus der Politik heraushalten und wieder dem Baugewerbe widmen solle, dem Hauptgeschäft der Familie Bin Laden. Osama pochte auf das egalitaristische Ethos des Islam, widersetzte sich der Anordnung und fuhr damit fort, seine Version des islamischen Aktivismus in einer Moschee und in seinem Haus in Dschidda zu predigen.

Der US-Präsident nach dem Tod Bin Ladens
:Obamas stille Siegesfanfaren

Bislang galt er vielen als Schwächling, doch diese historische Chance lässt sich Barack Obama nicht entgehen: Nach dem Einsatz gegen Osama bin Laden inszeniert sich der US-Präsident als Triumphator, ganz anders allerdings, als man das aus Amerika gewohnt ist.

Sebastian Gierke

Das saudische Königshaus nutzte dann auch nicht Bin Ladens arabisch-afghanische Kampftruppe, um das Königreich 1990 und 1991 zu verteidigen, sondern lud stattdessen die US-Streitkräfte dazu ein. Das brachte Osama in Rage, der die Präsenz der Ungläubigen auf dem heiligen Boden Arabiens als direkten Affront gegen die Lehren des Islam verstand. Er steigerte sich immer mehr in seinen Zorn hinein, hielt Reden und verfasste Petitionen gegen die saudische Königsfamilie, bis er ins Exil geschickt wurde und man ihm die saudische Staatsbürgerschaft entzog.

Das saudische System, das von wenigen, hochrangigen Prinzen dominiert wird, hatte keinen Platz für jemanden wie Osama und konnte seine politischen Ambitionen deswegen auch nicht absorbieren. Er ging in den Sudan, aus dem er 1996 auf Druck der USA und der Saudis ebenfalls ausgewiesen wurde. Danach suchte und bekam er Asyl im Afghanistan der Taliban.

Während dieser Zeit wurde er unter dem Einfluss des ägyptischen Ideologen Aiman al-Zawahiri immer weiter radikalisiert. Er kam zu der Überzeugung, dass die Muslime das Joch der Erniedrigung nur dann abwerfen und den verblassten Ruhm wieder erlangen könnten, wenn sie in den bewaffneten Kampf gegen die arabischen Ketzerstaaten und deren amerikanische Schutzmacht treten.

Gewalt als theologische Säule des Glaubens

Er entwarf eine Gewalttheorie, in dem er die Gewalt zu einer theologischen Säule des Glaubens erklärte. So predigte er, dass die Muslime einen Staat, der auf islamischem Recht beruhe, nur nach einer Ära des gewalttätigen Widerstands gegen die nicht-islamischen Unterdrücker errichten könnten, während der jede nur erdenkliche Kriegsführung erlaubt sei. Dieses Utopia würde die Gläubigen erlösen und sie zu Herrschern der Welt machen, so wie es Gott versprochen hatte.

Osama bin Ladens Vision eines Islam kreiste um den Begriff der Macht, durch die seiner Meinung nach die Muslime endlich wieder Stolz und Würde zurückerhalten würden. Einer seiner jemenitischen Anhänger, sein ehemaliger Leibwächter Nasir al-Bahri (alias Abu Jandal), drückte seine Gefühle für ihn wie folgt aus: "Wir lebten eine Zeit lang mit Scheich Osama bin Laden. Und wir fühlten uns wie auf dem Gipfel des Berges Islam. Wir verstanden uns als Avantgarde der Muslime, die unsere Rechte zurückeroberte und das Unrecht ausmerzte. Unser Leben war ein ernsthaftes, männliches Leben, ein Leben in Würde und voller Macht, ein Leben voller Stolz, nicht voller Erniedrigungen und Schwäche."

Osamas politisches Programm war außerdem streng revanchistisch - die Feinde des Islam sollten für ihre angeblichen Verbrechen gegen die Muslime bezahlen. Es sagte oft, dass die Amerikaner nie in Frieden und Sicherheit leben könnten, so lange sie dies den Muslimen verweigerten. Seit seinem Tod wurde diese Äußerung zum entscheidenden Motto verschiedener Dschihad-Webseiten.

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Osama bestand dabei immer darauf, dass das Leben eines Muslims nicht weniger wert sei als das eines Nicht-Muslims, und eine makabre zahlenmäßige Aufrechnung der Toten durchzog fast alle seine Äußerungen. Doch es war gerade dieses Beharren auf der Gleichheit des Blutes und auf der moralischen Überlegenheit des Islam, die den Nerv muslimischer und arabischer Menschen in aller Welt traf, auch wenn die meisten sich weder seiner Bewegung anschlossen noch seine Methoden akzeptierten.

Osamas Einfluss wurde außerdem von seinem Charisma, seinem distinguierten Auftreten und seiner Eloquenz in makellosem klassischen Arabisch verstärkt. In seinen Audio- und Videobotschaften rezitierte er oft Lyrik. Und er war ein Meister, der mit diesen Medien ein Image projizierte, das eine Mischung aus Robin Hood, einem edlen Ritter und einem John-F.-Kennedy-ähnlichen Optimismus war. Er hatte so etwas wie Star-Qualitäten.

Einer meiner saudischen Kollegen erzählte mir gerade, dass seine Frau vom Tode Osamas tief betroffen sei - offensichtlich sei er ihr Idol gewesen. Und sie ist eine von vielen in Arabien und anderswo, die so reagierten. Wobei mich der Verdacht beschleicht, dass das weniger mit Osamas Charakter zu tun hat als vielmehr mit einem chronischen Mangel an Vorbildern in dieser Welt.

Auch ein anderer meiner saudischen Kollegen lehnt zwar Osamas Fanatismus und Gewalt ab, drückte aber doch seine Bewunderung für dessen Leistungen aus. Sein Tod, sagte er, sei keineswegs eine Niederlage und die Amerikaner hätten keinen Grund, sich so hämisch zu freuen. Denn Osamas Aktionen hätten "den amerikanischen Staat durch den endlosen Krieg seit 9/11 Billionen von Dollar gekostet und zu einem erheblichen moralischen, wirtschaftlichen und politischen Ansehensverlust geführt". Aus seiner Sicht ist es Osama, der hier zuletzt lache - eine Auslegung die man nun auf vielen Dschihad-Webseiten findet.

Auf Dschihad-Webseiten schwören Osamas Anhänger Rache

Viele seiner Bewunderer preisen ihn als Märtyrer und als "Erneuerer des Glaubens in unserer Zeit", eine der höchsten Auszeichnungen unter sunnitischen Muslimen. Auf den Dschihad-Webseiten schwören seine Anhänger Rache für seine Tötung und bestehen darauf, dass sein Leichnam mit Respekt behandelt und an seine Familie überführt wird.

Doch sein Tod hat al-Qaida durchaus in Schwierigkeiten gebracht. Wie man derzeit in Libyen und Syrien sieht, sind arabische Regierungen meist menschenverachtende Regime. Osamas Botschaft lautete zwar, dass muslimisches Leben an sich wertvoll ist. Mit Muslimen meinte er allerdings nur Sunniten und eigentlich auch nur jene, die seine Ansichten teilten. Letztlich führten seine brutalen Strategien und Taktiken gegen Muslime, die Selbstmordanschläge in Irak, Jordanien und Saudi-Arabien, seine Behauptungen ad absurdum. Hätte er seine Angriffe auf Westler beschränkt, hätte er eine ungleich größere Basis halten können.

Al-Qaida hat aber nicht nur deswegen ein Problem. Es gibt einen deutlichen Mangel an Führerfiguren. Aiman al-Zawahiri und Abu Yahya al-Libi haben beispielsweise keine der Qualitäten Osamas. Zawahiri hat kein Charisma. Das hat zwar Libi, doch der gilt als krude, rücksichtslos brutale Figur.

Noch entscheidender sind aber die Aufstände des "arabischen Frühlings". Deren volksdemokratischen Ziele wie verbesserte Regierungsformen und die Würde des Einzelnen, sowie ihre gewaltfreien Taktiken konterkarieren Osamas Visionen deutlich. Wandel scheint plötzlich ohne extreme Gewalt möglich zu sein. Würde ist ein Wert für jeden einzelnen Bürger, nicht nur für die nebulöse Masse der "muslimischen Weltgemeinschaft".

Die neuen Massenbewegungen, die sich ohne islamistische Slogans und Ziele gebildet haben, sind sicher die größte Herausforderung für al-Qaida und ihre Ideologie. Wenn diese Bewegungen allerdings ins Leere laufen, wenn Länder wie Ägypten und Tunesien zu ihren brutalen Formen des Autoritarismus zurückkehren, werden Osamas Ideologien und Ansichten, wenn nicht sogar seine Taktiken, zurückkehren. Sollten sich dort allerdings transparentere und demokratischere Regierungen und ein größerer Respekt für den einzelnen Bürger breit machen, werden Osamas Visionen dort begraben bleiben, wo auch er nun begraben liegt - irgendwo in der blauen Tiefe des Arabischen Meers.

Der Autor ist Professor für Nahost-Studien und Direktor des Institute for the Transregional Study of the Contemporary Middle East, North Africa and Central Asia an der Princeton University.

© SZ vom 12.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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