Oper:Empathisch in Salat gebissen

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Michael Mendl empfängt die Meerschwein-Liebe, die Gudrun Ensslin fehlte. (Foto: Monika Rittershaus)

Benedikt von Peter hat Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" in Frankfurt inszeniert. Dabei hatte ein Meerschweinchen seinen großen Auftritt als Gaststar.

Von MICHAEL STRUCK-SCHLOEN

Kaufhaus-Brandstiftung in Frankfurt, April 1968. Vier linke Aktivisten aus dem Umfeld der "Kommune 1" haben in der Bankenstadt Bomben gelegt, der Sachschaden ist erheblich. Auf den Fotos vom anschließenden Prozess sieht man Andreas Baader mit Sonnenbrille, die schöne Gudrun Ensslin mit langen Haaren und Lederjacke, Horst Söhnlein und Thorwald Proll feixend mit Zigarren und einen lächelnden Otto Schily als Verteidiger. Es ist eine Party im Gerichtssaal als Beginn einer grundlegenden und blutig ausufernden Befragung der Elterngeneration.

Der 1935 geborene Helmut Lachenmann, ein Stuttgarter Mitschüler von Gudrun Ensslin, steht den radikalen Ideen der gesellschaftlichen Brandstifter kritisch gegenüber. Als er jedoch in den Neunzigerjahren seine einzige Oper schrieb, zeigte er auch Verständnis für die Terroristen und machte die Gefühlslage im Wirtschaftswunderland zum Thema: Kälte, Verschweigen der Vergangenheit, Ausgrenzung der Schwachen und Andersdenkenden.

Das inhaltliche Rückgrat im Stück bildet Hans Christian Andersen Kunstmärchen "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern". Es ist die Geschichte von der kleinen, frierenden Streichholzverkäuferin, die ihre Zündhölzer Stück für Stück abbrennt und im Feuerschein das verweigerte Glück erlebt - um den Preis des eigenen Todes. Textfragmente aus Andersens traurigsüßem Text durchsetzt Lachenmann mit einer politischen Anklage, die Gudrun Ensslin in der Haft in Stuttgart-Stammheim formuliert hat: scharfe, hasserfüllte Sätze gegen den Staat, die bei der Neuproduktion der Oper Frankfurt als Schriftbänder auf Wände, Ränge und Zuschauerköpfe projiziert werden.

Doch die wesentliche Aussage dieser "Musik mit Bildern" übernimmt nicht das Wort oder gar eine Handlung, sondern die Musik selbst: eine erstarrte, erstickte, boden- und sprachlose Musik aus Geräuschen und Stimmfetzen ‒- Musiktheater als "meteorologischer Zustand", wie es der Komponist nennt. In Frankfurt sind das groß besetzte Opern- und Museumsorchester und das Chorwerk Ruhr, dirigiert von Erik Nielsen, verteilt auf einem Podest im Bühnenraum und auf die oberen Ränge, wo die Musiker hinter Gittern wie in Vogelkäfigen spielen.

Die Schwierigkeiten mit Lachenmanns radikalen Notations- und Spielarten, die bei der Hamburger Uraufführung 1997 noch unüberwindlich schienen, werden von heutigen Orchestern und Vokalensembles mit einer Geschmeidigkeit und Kompetenz gemeistert, dass die Revolution von einst in schiere Schönheit umschlägt.

Dass Lachenmann die "Bebilderung" seiner fröstelnden Musik offen lässt und ihre politische Dimension von der jeweiligen Inszenierung fordert, hat beim Regisseur Benedikt von Peter zu einer Art Trotzreaktion geführt. Er denkt nicht daran, Banker, heutige Terroristen oder Flüchtlinge auf die Bühne zu bringen, sondern wählt als eine Art maximaler Sublimierung das Meerschweinchen. Jawohl. Auf einer blauen Turnmatte in der Saalmitte, umringt von Zuschauern und Musikern, hoppelt es mit großen Knopfaugen herum. Und die abgesonderte Flüssigkeit deutet an, dass das Tier ein Opernhaus mit Lachenmann-Musik und Video-Aufzeichnung nicht als artgerecht, zumindest als stressig empfindet.

Wäre der Regisseur im Deutschen Herbst aufgewachsen, hätte er mehr vom Inhalt verstanden

Das Meerschweinchen ist nicht allein. Der Schauspieler Michael Mendl umkreist die Matte, nimmt sich des Tierchens an und beißt auch schon mal empathisch in einen Salatkopf. Was, so suggeriert das harmonische Schlussbild mit Mendl und Meerschweinchen, hätte nicht alles verhindert werden können, wenn man Andersens Mädchen und Ensslins Gudrun etwas öfter in den Arm genommen hätte? "Wäre das kleine Mädchen unter anderen Bedingungen aufgewachsen," vermutet der Regisseur im Programmheft, "hätte es vielleicht ein solches Meerschweinchen besessen." Wäre Benedikt von Peter (Jahrgang 1977) im Deutschen Herbst aufgewachsen, hätte er vielleicht mehr vom Inhalt verstanden.

Er scheint aber doch ein schlechtes Gewissen bekommen zu haben. Deshalb hat er der Aufführung einen Prolog im öffentlichen Raum vorgeschaltet, der alles nur noch banaler macht. Auf dem Vorplatz der Oper steht ein überdimensionales, aufgeblasenes Mädchen mit Streichholzschachtel und lugt vorwurfsvoll ins Foyer. Am Ende des zweistündigen Abends liegt es schlapp und luftlos vor dem Ausgang. Es ist vorbei, der Lachenmann überstanden, die RAF-Vergangenheit und Gudrun Ensslin sowieso seit 38 Jahren tot.

© SZ vom 25.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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