Neu im Kino: "Anomalisa":Das Leben der Marionetten

Lesezeit: 4 min

Normalos aus dem 3-D-Drucker: Michael Stone und das Mädchen "Anomalisa", der einzige Mensch, den er in dieser Puppenwelt als Individuum wahrnimmt. (Foto: AP)

Der melancholische Puppentrickfilm "Anomalisa" von Charlie Kaufman ist ein bezauberndes Kinokunststück über Einsamkeit und Entfremdung.

Von Susan Vahabzadeh

Als es das Kino ein paar Jahrzehnte gab, fingen die Filme oft an, ein wenig so zu sein wie irgendein Film, der vor ihnen war. Das ist nicht weiter schlimm, es ist aber dennoch schön, wenn das Kino gelegentlich noch einmal etwas wirklich Neues hervorbringt - und "Anomalisa", in diesem Jahr für den Oscar als bester Trickfilm nominiert, ist wie nichts, was es zuvor gab.

Eine Geschichte über einen Mann, der mit der Welt hadert, dem die Konformität und Effizienz seiner Mitgeschöpfe den letzten Nerv raubt, der es nicht erträgt, wie fügsam die Post-9/11-Gesellschaft ist, der etwas anderes empfinden will als Einsamkeit und Wut, es aber nicht schafft - okay, so was gab es. Aber nicht mit Puppen. Und schon gar nicht mit solchen. Anderswo werden die Leinwände mit fleischgewordenen Comichelden geflutet, Regisseur Charlie Kaufman greift in die Trickkiste, um Menschen nachzuahmen, und er hat erstaunlich gut hingeschaut.

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Die Puppen, die Kaufman und sein Ko-Regisseur Duke Johnson sich ausgedacht haben, sind im Stop-Motion-Verfahren gefilmt, Teile stammen aus dem 3-D-Drucker, aber vielem sieht man die detailbesessene Handarbeit an. Es gibt eine Liebesszene, deren Dreh allein ein halbes Jahr gedauert haben soll. Zehn Jahre, sagen Kaufman und Johnson, hätten sie an dem Film insgesamt gearbeitet. Aber bei Kaufman, der 1999 mit "Being John Malkovich" neue Maßstäbe des verfilmbaren Irrsinns setzte, danach die Drehbücher schrieb zu "Adaptation" (2002) und "Eternal Sunshine of the Spotless Mind" (2004), weiß man nie so genau, wo die Fiktion einsetzt.

Nur Kunstfiguren verhalten sich immer filmreif - diese Puppen sind richtig schön unbeholfen

Das Stück, auf dem "Anomalisa" basiert, hat er beispielsweise selbst geschrieben, heimlich, unter dem Pseudonym Frances Fregoli. Das sogenannte Fregoli-Syndrom ist eine seltene Wahrnehmungsstörung. Das passt dann auch ganz gut zu "Anomalisa", dieser Mischung aus präziser Beobachtung und überdeutlicher Künstlichkeit. Was dabei herausgekommen ist, sind Puppen, die einerseits ungeheuer menschenähnlich wirken. An denen dann aber doch all die Brüche und Nahtstellen sichtbar bleiben, die Stop-Motion-Puppen heutzutage normalerweise nachträglich am Computer ausgetrieben werden. Sie benehmen sich wie wir, sie sehen so ähnlich aus, aber diese Merkwürdigkeiten in den Bewegungsabläufen, die Linie zwischen den zusammengesetzten Gesichtshälften - das alles erinnert einen permanent daran, dass man Puppen sieht.

Sie tun nur Dinge, die für den Aufwand, den Stop-Motion erfordert, wo die Puppen für jedes Bild immer wieder bewegt werden müssen, sonst viel zu normal sind: Zur Toilette gehen, duschen oder sich Kopfhörer aufsetzen, um die störende Welt mit der Musik aus der Oper "Lakmé" auszublenden. Manche dieser Momente, sagt Kaufman, waren so schwierig zu drehen, dass das Team dafür die Puppen richtig zerstören musste. Daraus ergibt sich ein ganz wunderbarer Effekt: Man nimmt das, was Menschen ausmacht, umso deutlicher wahr. Nur Kunstfiguren verhalten sich immer filmreif - wenn die Hauptfigur, der Motivationslehrer Michael Stone, und sein Mädchen Lisa im Bett landen, dann sind sie richtig schön unbeholfen.

Charlie Kaufman hat sich für Puppen interessiert, seit er Kino macht, auch "Being John Malkovich" erzählte von einem Puppenspielertrick. Die Puppe war halt nur aus Fleisch und Blut, und John Cusack, der sich dann in seinem Wirtsmenschen John Malkovich häuslich einrichtet, ist von Beruf Marionettenspieler.

Jetzt erzählt Kaufman eine Geschichte, die tatsächlich nach echten Puppentricks verlangt. Seine Hauptpuppe Michael Stone sitzt in der ersten Szene im Flugzeug, der Passagier neben ihm greift nach seiner Hand, in Cincinnati angekommen nimmt er sich ein Taxi, checkt ein an der Hotelrezeption, und mit all diesen Figuren, mit denen Michael es zu tun bekommt, ist irgendwas faul. Man merkt auch schnell was: Männer, Frauen, Kinder, egal wie alt oder dick oder dünn - jeder, dem Michael begegnet, spricht mit derselben monotonen Stimme. Und die Gesichtszüge sind sich seltsam ähnlich, als wären all diese Gesichter mit derselben Gussform geschaffen - und ungefähr so ist es ja auch. Michael Stones Aufenthalt in Cincinnati ist ein richtiger Kafka-Trip.

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Mit zittriger Stimme singt Puppe Lisa für ihren Liebhaber "Girls Just Want To Have Fun"

Dann, nachdem er mit seiner Frau telefoniert hat, die antwortet, als sei sie auf Autopilot geschaltet, nachdem er eine Ex-Freundin getroffen hat, die ihm so fremd vorkam wie alle anderen auch, hört er auf dem Gang vor seinem Hotelzimmer plötzlich eine glockenhelle Frauenstimme. Er klopft an die Tür, hinter der sie sein muss - und erst einmal erscheint eine Blondine mit der Einheitswangenpartie und der Stimme, die aus allen spricht. Dann aber taucht dahinter Lisa auf: eine pummelige Frau aus dem Mittleren Westen, mit einer Narbe im Gesicht, die nach Cincinnati gekommen ist, um Michaels Motivationsseminar zu besuchen - und die sich tatsächlich eine naive Unvoreingenommenheit bewahrt hat, die Michael sonst in niemandem mehr erkennen kann. Er ist hin und weg, "Anomalisa" tauft er sie später in seinem Zimmer.

Charlie Kaufman wäre nicht er selbst, gäbe es in dieser Nacht nicht bizarre Albträume und seltsame Vorkommnisse. Aber im Zentrum dieser Geschichte steht die schüchterne Lisa, in der Michael für ein paar Stunden ein Fabelwesen erkennt. Wie sich die beiden aneinander herantasten, die verschämten Gesten, mit denen sie ihre Narbe zu verstecken versucht, und - dafür gab es bei der Uraufführung in Venedig Szenenapplaus - wie sie mit zittriger Stimme melancholisch Cindy Laupers "Girls Just Want To Have Fun" für ihn singt, und dann, am Morgen, der blonde Flaum auf ihrem Arm, der in der Sonne glitzert - das ist alles, für einen Augenblick, wunderschön. Zutiefst menschlich. Aber dann wird auch sie ihm wieder einerlei.

Auch vorher hat Charlie Kaufman bereits von der Entfremdung der ganzen Welt erzählt, aber diese Vorstellung, dass alle ferngesteuert sind und einander nicht als Individuen wahrnehmen - die war wohl nie so klar wie hier. Es ist am Ende vielleicht eine Tugend, dass bei Kaufman immer ein Rest bleibt, der so bizarr ist, dass er sich jedem Verständnis entzieht. Er lässt einen bei allen Geschichten, die er sich ausgedacht hat, mit der Frage zurück, was denn nun die Wirklichkeit bedeutet und ob sich etwas je real anfühlen kann. Denn eigentlich ist es ja kein Wunder, wenn einem die Welt surreal vorkommt. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Anomalisa , USA 2015 - Regie: Charlie Kaufman, Duke Johnson. Drehbuch: Charlie Kaufman. Animation: Dan Driscoll. Musik: Carter Burwell. Mit den Stimmen von David Thewlis, Jennifer Jason Leigh, Tom Noonan. Paramount, 91 Minuten.

© SZ vom 20.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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