Lenins Rückkehr nach Petrograd:Wehe, wenn die Fanatiker aus dem Exil kommen

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Anhänger Khomeinis bei einer Demonstration in Teheran - die Rückkehr des Revolutionärs aus der Fremde ist ein Motiv, das gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. (Foto: AFP)

Vor 100 Jahren kehrte der Revolutionär Lenin nach Petrograd zurück - und radikalisierte sich. Der Westen war oft ein ideologischer Teilchenbeschleuniger für radikale Geister.

Von Sonja Zekri

Die Anhänger waren aus allen Provinzen gekommen, um dem Heimkehrer ein triumphales Willkommen zu bereiten. Das Land war aufgewühlt, die Regierung bedrängt, ein Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen, so wenig wie die Verhaftung, der Tod des Ankömmlings. Als er ausstieg, müde und den Tränen nah, versetzte eine winzige Geste die Menge in Raserei. Tausende Polizisten konnten die Massen vor dem Flughafen nicht zurückhalten, die nun, endlich, mit eigenen Augen ihren Helden sehen wollten. Als er die Gangway des Air-France-Flugzeuges hinabschritt, sah man, dass er Sandalen trug. Am 1. Februar 1979 kehrte Ayatollah Ruhollah Khomeini nach Jahren im Exil in seine Heimat zurück und veränderte Iran für immer.

Die Rückkehr des Revolutionärs aus der Fremde ist ein historisches Motiv, dessen dynamische Wucht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Lenins Ankunft im revolutionären Petrograd vor 100 Jahren war dafür ein frühes Beispiel, Khomeinis Rückkehr ein späteres. Dabei ist der Moment der Ankunft nicht denkbar ohne die Jahre davor, ohne das Exil, den Umweg über das Ausland. Viele radikale Geister, die später in ihren Ländern Umstürze, Revolutionen, Diktaturen oder militante Bewegungen inspirierten oder ins Werk setzten, nahmen den Weg über den Westen, der als eine Art politischer Inkubator, als ideologischer Teilchenbeschleuniger wirkte. Oft war es Frankreich.

Kirchentanz, Friseurbesuche, das satte Grün des Rasens - all das befeuerte den Hass auf Amerika

Für Khomeini hatte das praktische Gründe. Jahrelang war er in der Region umhergezogen, in der Türkei, dem Irak, Kuwait war im Gespräch, auch Algerien. Aber schließlich mochte niemand, am wenigsten Iraks Diktator Saddam Hussein, Khomeini mehr aufnehmen. Da bot Frankreich ihm Asyl. "Mir wurde klar, dass der Druck derselbe wäre, ganz gleich, in welches islamische Land wir reisen würden", erinnerte sich Khomeini: "Deshalb und ohne zuvor darüber lange nachgedacht zu haben, entschied ich mich, nach Frankreich zu gehen." Er lebte in Neauphle-le-Château, westlich von Versailles, gab Interviews, hielt Reden, empfing Besucher und nahm jene Kassetten auf, die nach Iran geschmuggelt wurden und dort mit Lautsprechern von den Dächern der Häuser in das Land ausgestrahlt wurden. Die Erwartungen stiegen Monat um Monat. Frankreich bot Khomeini die Weltbühne, eine Infrastruktur, ein Publikum wie kein Land des Nahen Ostens.

Von diesen logistischen Vorzügen abgesehen berührte ihn der Westen nicht, und auch darin war er keine Ausnahme, im Gegenteil. Saloth Sar, geboren 1925 in der kambodschanischen Provinz Kompong Thom, würde im Laufe seines Lebens bis zu zwei Millionen Menschen ermorden, verhungern, durch Folter oder Arbeit umbringen lassen. Zum Kommunismus aber, einer wichtigen Zutat des Terrorregimes seiner Roten Khmer, fand er in Paris. Hier gründeten kambodschanische Studenten eine eigene kommunistische Partei, hier nahm er den Namen an, unter dem er als Menschheitsverbrecher in die Geschichte eingehen würde: Pol Pot.

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Vietnams späterer Revolutionsführer Ho Chi Minh war 1911 aus Interesse an der damaligen Kolonialmacht nach Frankreich gereist, wo er in Paris vom Fotoladen eines alten Chinesen aus Kontakt zu allen möglichen Untergrundbewegungen aufnahm. Nach dem Ersten Weltkrieg, inzwischen Kommunist, gründete er die Zeitschrift Le Paria, ein Organ für Anklagen gegen den Kolonialismus. Erst danach wies ihn Frankreich aus, und Ho Chi Minh reiste in die Sowjetunion.

Natürlich gehören alle diese Fälle in unterschiedliche historische Zusammenhänge. Europa verübte in jenen Jahren eigene Menschheitsverbrechen, zudem war dies die Hochzeit der Ideologien, und einige der späteren Fanatiker setzten nur auf brutale Weise um, was an theoretischem Gedankengut auf dem Kontinent bereits im Umlauf war. Die politischen Migranten suchten, wenn man will, nicht ihr Heil im Westen, sondern ihr Unheil.

Und doch würden vergleichende Untersuchungen dieser revolutionären Exil-Biografien wohl Gemeinsamkeiten zutage fördern, die manche Illusion über den Zauber des Westens als attraktiver Wertegemeinschaft oder auch nur mäßigender Kraft zerschlagen. Wer jene oft gut dokumentierten Begegnungen betrachtet, der lernt viel darüber, wo und warum der Kontakt mit der Lebensweise, der Wertegemeinschaft, den Umgangsformen des Westens auf oft fatale Weise scheitert, ja, als Folge von Missverständnissen und Enttäuschungen Radikalisierungen begünstigen, vielleicht sogar auslösen kann.

Dabei erfüllten die undankbaren Gäste oft durchaus die grundlegenden Integrationsbedingungen. Ho Chi Minh sprach Französisch wie ein Franzose, außerdem - neben Japanisch und Chinesisch - auch Englisch und Spanisch. Pol Pot hatte in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh eine französisch-katholische Schule besucht und studierte in Paris Radiotechnik.

Ähnliches galt für den ägyptischen Intellektuellen Sajjid Qutb, der im November 1948 in New York von Bord ging. 20 Jahre später wurde er in Kairo als Vordenker des militanten Dschihad hingerichtet, da hatte sein Stern Ägypten, die Muslimbrüder, den Nahen Osten längst überstrahlt, er inspirierte den heutigen Al-Qaida-Anführer Aiman al-Zawahiri zur Schaffung eines islamistischen Staates, Qutbs Bruder Mohammed unterrichtete an einer saudischen Universität Osama bin Laden. Die Bekämpfung westlicher Werte und westlicher Lebensart war dank Qutb oberstes Ziel militanter Islamisten weltweit.

An jenem Novembertag in New York stieg ein mäßig religiöser junger Mann von Bord, der, so schreibt es der amerikanische Publizist Lawrence Wright in seinem Buch "Der Tod wird euch finden", Amerika als Land ohne koloniale Interessen im Nahen Osten begriff, Charles Darwin und Albert Einstein schätzte, Lord Byron und Victor Hugo las, klassische Musik und Hollywood-Filme liebte. Und doch konnte nichts davon jenen Schock mildern, den Qutb zu erleben glaubte. Ausgerechnet in Greeley, Colorado, einem Ort, der Ende des 19. Jahrhunderts als eine Art frommes Utopia gegründet worden war - Alkohol war verboten -, entdeckte Qutb, was er seit seiner Ankunft überall entdeckte: Zügellosigkeit, menschliche Kälte, Dummheit.

Ein Kirchentanz, misslungene Friseurbesuche, selbst das satte Grün des Rasens in Greeley führte er als Belege für Amerikas Lasterhaftigkeit, seine Primitivität, seine Gier an. Sein Hass hatte auch politische Gründe. Qutb hatte sich von Amerika ein Eintreten gegen Israel erhofft, er identifizierte sich im damaligen Klima des Rassismus mit den Schwarzen. Doch in seinem Buch "The America I Have Seen" drehte sich vieles um Frauen, Frisuren und Rasen. Wer sich entschließt, den Westen zu hassen, der findet dafür immer einen Vorwand. Bis heute.

© SZ vom 13.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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