Ein Bild und seine Geschichte:Wie Lenin zur Weltrevolution reiste

Nikolai Lenin

Mit der historischen Wahrheit nimmt es die Darstellung P. W. Wassiljews nicht allzu genau: Lenin soll auf dem Weg durch Deutschland vor allem gearbeitet haben.

(Foto: De Agostini/Getty Images)

1917 transportiert Deutschland den Kommunisten im Sonderzug in Richtung Russland - der deutsche Kaiser ist entzückt von der Idee, Lenin genervt. Einmal droht er sogar mit Prügeln.

Von Barbara Galaktionow

Ein Bild und seine Geschichte

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Lenin sitzt in einem Zugabteil. Der Führer der Bolschewiki spricht, und die anderen Anwesenden scheinen ihm, ihrer Körperhaltung nach zu urteilen, gebannt zuzuhören. Ein Zuhörer raucht, ein anderer dreht sich eine Zigarette. Im Vordergrund lehnt ein Gewehr. Es ist kein Foto, das diese Szenerie wiedergibt. Es ist ein Bild des sowjetischen Revolutionsmalers P. W. Wassiljew, die verklärende Fiktion eines realen Ereignisses: der Rückkehr Lenins aus dem Exil nach Russland in einem deutschen Sonderzug im April 1917.

Mit historischen Details hält sich die Darstellung nicht auf. "Der wirkliche Waggon war zu klein für eine vielköpfige Versammlung, und im russischen Teil [des Zugs] gab es keine bewaffneten Soldaten", schreibt die britische Historikerin Catherine Merridale in ihrem gerade auf deutsch erschienenen Buch über Lenins Zugfahrt. Außerdem wurde nur auf der Toilette geraucht.

Die Nachrichten elektrisieren Lenin

Doch das war dem Zeichner Wassiljew wohl egal. Ihm wird es bei Lenins Darstellung vor allem darum gegangen sein, die große Bedeutung der Reise des russischen Nationalheldens deutlich zu machen. Denn ohne diese Bahnfahrt hätte eines der einschneidendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts womöglich nie stattgefunden: die Oktoberrevolution in Russland.

Im Frühjahr 1917 lebt Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, im Schweizer Exil. In das neutrale Alpenland hatte es ihn nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschlagen. Die Tage verbringt er lesend und schreibend in den Zürcher Bibliotheken. Lenin und seine Frau Nadeschda Krupskaja wohnen in einem Zimmer in einer proletarischen Gegend, wo es, wie Krupskaja in ihrem Memoiren schilderte, wegen einer kleinen Fleischerei "vom Hof herauf unerträglich nach fauler Wurst roch". Die Fäden nach Russland seien abgerissen. "Es lebte sich unfroh", konstatierte Krupskaja.

Doch dann erreicht die Nachricht von der Februarrevolution die Exilanten: Der Zar ist gestürzt. Lenin ist sofort klar: Er muss in die russische Hauptstadt Petrograd reisen - fast unmöglich im weltkriegsgebeutelten Europa. Noch im März schreibt Lenin an eine Freundin, er fürchte, dass es ihnen nicht so bald gelingen werde, aus der "verfluchten Schweiz" herauszukommen.

Deutschland schleust Lenin nach Russland

Hilfe kommt von unerwarteter Seite: Ausgerechnet der russische Kriegsgegner Deutschland will Lenin die Durchreise gewähren. Das Kalkül dahinter: Das zwischen zwei Fronten eingeklemmte Kaiserreich hofft, der Bolschewikenführer werde in Petrograd genug Unfrieden stiften, um die Ostfront zu schwächen oder ganz zu Fall zu bringen. Die Deutschen "transportierten Lenin in einem plombierten Zug wie einen Pestbazillus von der Schweiz nach Russland", wird der britische Staatsmann Winston Churchill das Geschehen später beschreiben.

Wilhelm II. billigt die Pläne, den Kommunisten Lenin durch sein Reich zu schleusen, ausdrücklich. Der deutsche Kaiser scheint regelrecht entzückt zu sein. Wilhelm empfiehlt seiner Regierung sogar, den Reisenden deutsche Weißbücher und seine "Osterbotschaft" als Lektüre zu schenken - damit Lenin in Russland aufklärend wirken könne".

100 Jahre Lenins Zugfahrt

Lenin und seine Frau Nadeschda sitzen 1922 mit der Hauskatze in Gorki.

(Foto: dpa)

Die Hilfe der deutschen Monarchie in Anspruch zu nehmen, ist für Lenin heikel, kann es ihn in seiner Heimat doch leicht als Verräter dastehen lassen, wie sein Unterhändler, der Schweizer Sozialist Fritz Platten schrieb. Um jeden Anschein von Kumpanei und Kontakt zu Deutschen zu vermeiden, dringt Lenin darauf, dass sein Teil des Zuges als "exterritorial" zu gelten habe. Ein simpler Kreidestrich trennt am Ende das russische "Hoheitsgebiet" vom deutschen - "ohne neutrale Zone", wie Platten in seinen Erinnerungen vermerkte (hier online zu finden)

Die Mitreisenden gröhlen Lieder, Lenin ist genervt

Die Russen bestehen zudem darauf, nicht - wie von der deutschen Führung geplant - Erster Klasse zu reisen, sondern begnügen sich mit einem Wagen Zweiter und einem Dritter Klasse. Und für Lenin und die anderen rund 30 Reisenden löst Platten "nach den normalen Tarifen die Fahrkarten".

Am 9. April 1917 (27. März nach dem russischen Kalender) besteigen die Reisenden nach einem gemeinsamen Mittagsmahl und unter großem Aufsehen in Zürich den Zug zur Grenze. Eine Menge Leute seien am Bahnhof gewesen und hätten leidenschaftlich das Für und Wider der Fahrt diskutiert, heißt es in den Berichten.

Ganz wohl ist den Reisenden nicht, als sie an der schweizerisch-deutschen Grenze in ihren Sonderzug überwechseln. Der mitreisende österreichische Gewerkschafter Karl Radek schreibt später von einem "bangen Moment", die bolschewistisch gesinnten Teilnehmer der Fahrt sind sich keineswegs sicher, dass das Kaiserreich sie nicht doch einfach internieren werde. Doch die Fahrt verläuft für Lenin und seinen Anhang ohne unliebsame Überraschung und weitgehend reibungslos.

Ansonsten gibt es die üblichen Querelen zwischen Menschen, die nah aufeinander sitzen. Lenin arbeitet Radek zufolge "während der ganzen Fahrt" und fühlt sich durch die Geräuschkulisse seiner Mitreisenden gestört. Vermittler Platten sieht sich aus anderen Gründen genötigt, gegen Lärmende einzuschreiten: Die schmettern nämlich lauthals die Marseillaise und andere französische Lieder - wenig empfehlenswert, um in Kriegszeiten in Deutschland nicht aufzufallen.

Deutsche Soldaten wollen über den Frieden reden

Ein in Stuttgart zugestiegener deutscher Gewerkschafter, der mit Lenin sprechen will, wird mit Hinweis auf die Exterritorialität rüde abgewiesen. "Sagen Sie ihm, dass wir ihn verprügeln werden, wenn er unseren Wagen[teil] betritt", zitiert Historikerin Merridale Lenins Anweisung an Platten.

Bei einem Aufenthalt in Frankfurt kommt es zu einem kleinen Zwischenfall, als einige deutsche Soldaten den Waggon betreten - nur drei der vier Türen sind plombiert. "Erregt fragten sie uns aus, ob und wann der Frieden käme", erinnert sich der Österreicher Radek. Diese Stimmung habe den Reisenden mehr über die Lage in Deutschland mitgeteilt, "als für die deutsche Regierung nützlich war".

Auch das, was sie durch die Fenster von Deutschland sehen, bewegt und erschüttert die Zugreisenden. "Die Arbeiter und Arbeiterinnen Frankfurts strömten den Vorortszügen zu. Abgemagerte, müde Menschen, mit matten Augen," berichtet Platten. Er habe "nicht ein Lächeln" gesehen. Noch drastischer beschreibt Grigori Sinowjew seine Beobachtung: "Ich erinnere mich an den grausigen Eindruck eines abgestorbenen Landes, als wir durch Deutschland fuhren. Berlin, das wir aus den Fenstern des Zuges sahen, erinnerte an einen Friedhof."

Lenin schimpft die russische Regierung als "Schweinehunde"

Was sie sahen, nährte aber zugleich bei den Reisenden die Hoffnung, auch in Deutschland werde es in absehbarer Zeit zu einer Revolution kommen (was ja dann im Herbst 1918 auch der Fall war). Zunächst aber setzen Lenin und seine Gefährten die Reise hin zu ihrer eigenen Revolution fort.

Von Sassnitz auf Rügen setzen sie ins neutrale Schweden über. In Stockholm ersteht Lenin auf Druck seiner Mitreisenden einen neuen Anzug und neue Schuhe, schmettert weitergehende Forderungen aber damit ab, er wolle ja keinen "Konfektionsladen" eröffnen. Wichtiger sind ihm die Nachrichten aus Russland.

Merridale zufolge kauft Lenin alle verfügbaren russischen Zeitungen. Die damals veröffentlichten Kriegsziele der Provisorischen Regierung empören ihn, war doch deutlich herauszulesen, dass ein schnelles Ende des Krieges nicht dazugehörte. "Die Verräter!" und "Schweinehunde", so soll Lenin die russische Regierung beschimpft haben.

Lenin wird in Russland triumphal empfangen

Und der Furor hält an - auf dem Weg durch Finnland und - endlich in Russland - nach Petrograd. Bis zuletzt bangen die Reisenden, was sie dort erwartet. Manche rechnen wegen ihrer Reise durch Deutschland mit der sofortigen Festnahme. Womit sie hingegen nicht rechnen, ist, was wirklich am Finnischen Bahnhof auf sie wartet: Eine Militärkapelle, stramm stehende Matrosen, Blumen und Reden - die Bolschewiki veranstalten ein Riesenspektakel für ihren zurückkehrenden Anführer.

Nach Wochen der Kompromisse und Verwirrung seit der Februarrevolution bricht mit Lenin und seinem strikten Kurs etwas von Außen herein, schreibt Merridale. "Zu uns in die Revolution drang (...) ein neuer scharfer, etwas betäubender Ton" schildert ein Beobachter von damals später die Situation. Es ist dieselbe Schärfe, mit der nur ein paar Monate die Errungenschaften, aber auch das Chaos der Februarrevolution hinweggefegt werden durch die Machtübernahme der Bolschewisten.

Der von den Deutschen erdachte Plan, durch Lenin die russische Regierung destabilisieren zu lassen und einen Friedensschluss im Osten zu erreichen, er geht auf. Doch anders als gedacht: Für die Regierungen der kapitalistischen Staaten des Westens wird die entstehende Sowjetunion zu einem Schreckbild. Der mit Lenin gereiste Österreicher Karl Radek spottet später, dass sich Erich Ludendorff von der deutschen Obersten Heeresleitung "noch heute die Haare darüber rauft, daß er die Bolschewiki durchließ". Denn am Ende habe er begriffen, dass er damit "nicht dem deutschen Imperialismus, sondern der Weltrevolution einen Dienst leistete".

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