SZ.de zeigt in loser Folge jeweils ein besonderes Foto oder eine besondere Abbildung. Hinter manchen Aufnahmen und Bildern steckt eine konkrete Geschichte, andere stehen exemplarisch für historische Begebenheiten und Zeitumstände. Übersicht der bisher erschienenen Texte
Lenin sitzt in einem Zugabteil. Der Führer der Bolschewiki spricht, und die anderen Anwesenden scheinen ihm, ihrer Körperhaltung nach zu urteilen, gebannt zuzuhören. Ein Zuhörer raucht, ein anderer dreht sich eine Zigarette. Im Vordergrund lehnt ein Gewehr. Es ist kein Foto, das diese Szenerie wiedergibt. Es ist ein Bild des sowjetischen Revolutionsmalers P. W. Wassiljew, die verklärende Fiktion eines realen Ereignisses: der Rückkehr Lenins aus dem Exil nach Russland in einem deutschen Sonderzug im April 1917.
Mit historischen Details hält sich die Darstellung nicht auf. "Der wirkliche Waggon war zu klein für eine vielköpfige Versammlung, und im russischen Teil [des Zugs] gab es keine bewaffneten Soldaten", schreibt die britische Historikerin Catherine Merridale in ihrem gerade auf deutsch erschienenen Buch über Lenins Zugfahrt. Außerdem wurde nur auf der Toilette geraucht.
Die Nachrichten elektrisieren Lenin
Doch das war dem Zeichner Wassiljew wohl egal. Ihm wird es bei Lenins Darstellung vor allem darum gegangen sein, die große Bedeutung der Reise des russischen Nationalheldens deutlich zu machen. Denn ohne diese Bahnfahrt hätte eines der einschneidendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts womöglich nie stattgefunden: die Oktoberrevolution in Russland.
Im Frühjahr 1917 lebt Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, im Schweizer Exil. In das neutrale Alpenland hatte es ihn nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschlagen. Die Tage verbringt er lesend und schreibend in den Zürcher Bibliotheken. Lenin und seine Frau Nadeschda Krupskaja wohnen in einem Zimmer in einer proletarischen Gegend, wo es, wie Krupskaja in ihrem Memoiren schilderte, wegen einer kleinen Fleischerei "vom Hof herauf unerträglich nach fauler Wurst roch". Die Fäden nach Russland seien abgerissen. "Es lebte sich unfroh", konstatierte Krupskaja.
Doch dann erreicht die Nachricht von der Februarrevolution die Exilanten: Der Zar ist gestürzt. Lenin ist sofort klar: Er muss in die russische Hauptstadt Petrograd reisen - fast unmöglich im weltkriegsgebeutelten Europa. Noch im März schreibt Lenin an eine Freundin, er fürchte, dass es ihnen nicht so bald gelingen werde, aus der "verfluchten Schweiz" herauszukommen.
Deutschland schleust Lenin nach Russland
Hilfe kommt von unerwarteter Seite: Ausgerechnet der russische Kriegsgegner Deutschland will Lenin die Durchreise gewähren. Das Kalkül dahinter: Das zwischen zwei Fronten eingeklemmte Kaiserreich hofft, der Bolschewikenführer werde in Petrograd genug Unfrieden stiften, um die Ostfront zu schwächen oder ganz zu Fall zu bringen. Die Deutschen "transportierten Lenin in einem plombierten Zug wie einen Pestbazillus von der Schweiz nach Russland", wird der britische Staatsmann Winston Churchill das Geschehen später beschreiben.
Wilhelm II. billigt die Pläne, den Kommunisten Lenin durch sein Reich zu schleusen, ausdrücklich. Der deutsche Kaiser scheint regelrecht entzückt zu sein. Wilhelm empfiehlt seiner Regierung sogar, den Reisenden deutsche Weißbücher und seine "Osterbotschaft" als Lektüre zu schenken - damit Lenin in Russland aufklärend wirken könne".
Lenin und seine Frau Nadeschda sitzen 1922 mit der Hauskatze in Gorki.
(Foto: dpa)Die Hilfe der deutschen Monarchie in Anspruch zu nehmen, ist für Lenin heikel, kann es ihn in seiner Heimat doch leicht als Verräter dastehen lassen, wie sein Unterhändler, der Schweizer Sozialist Fritz Platten schrieb. Um jeden Anschein von Kumpanei und Kontakt zu Deutschen zu vermeiden, dringt Lenin darauf, dass sein Teil des Zuges als "exterritorial" zu gelten habe. Ein simpler Kreidestrich trennt am Ende das russische "Hoheitsgebiet" vom deutschen - "ohne neutrale Zone", wie Platten in seinen Erinnerungen vermerkte (hier online zu finden)