Kinderbuch:Doppelmoral

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Ein kleines Mädchen bleibt sich selbst treu, anders als die Erwachsenen, die ihre moralischen Vorstellungen nicht ernst nehmen.

Von Andrea Duphorn

Erna ist elf - und findet ihren Namen einfach nur "bescheuert". Dass ihre Mutter es angeblich gut gemeint hat und für sie vor allem nach einem Namen gesucht hat, der "nicht so massenhaft vorkam", macht es für sie kein bisschen besser. Mit ihrem jüngeren Bruder und den Eltern lebt Erna in Berlin in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt. Dort ist es ganz normal, "wenn man bei anderen klingelt oder mit ihnen Abendbrot isst", erzählt sie. Erna und ihr Bruder besuchen auch eine Gemeinschaftsschule, in der immer drei Jahrgangsstufen gemeinsam unterrichtet werden. Kurz: Gemeinschaft, Kompromisse, Rücksichtnahme und Verständnis für andere spielen im Leben von Erna und ihrer Familie ganz wesentliche Rollen.

In jüngster Zeit hat Erna allerdings immer öfter das Gefühl, dass es die Erwachsenen mit dieser Gemeinschaft gar nicht so genau nehmen. "Man kann den Erwachsenen nicht vertrauen", sagt sie, "ständig gibt es Situationen, wo sie plötzlich das Gegenteil von dem behaupten, was sie vorher gesagt haben." So sind in Ernas Schule zwar alle "eine große Gemeinschaft", die Lehrer werden geduzt, es gibt keine Noten und keiner wird zu irgendetwas gedrängt - "aber dann gibt es eben doch andauernd Wettbewerbe, bei denen es darum geht, welche von den Lerngruppen die beste ist." Petzen ist ebenfalls verpönt - solange es kein Lehrer tut, denn die "geben ja nur Informationen weiter". Da passt es ins Bild, dass alle Schulprinzipien kurzerhand über den Haufen geworfen werden, als die Toiletten eines Tages mutwillig verstopft worden sind. Weil sich der Täter nicht stellt, werden alle bestraft: Pausen- und Freizeiten sind nur noch unter Beaufsichtigung und bei Wind und Wetter im Freien zu verbringen. Erna könnte der misslichen Situation ein Ende bereiten. Sie kennt den Übeltäter, will ihn aber nicht verpetzen - und ist mit dieser Haltung konsequenter als so mancher Erwachsene.

Anke Stellings Roman "Bodentiefe Fenster" stand 2015 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und der Hotlist der Unabhängigen Verlage. "Erna und die drei Wahrheiten" legt die Autorin nun als ihr erstes Kinderbuch vor. In 43 kurzen Kapiteln lässt sie ihre junge Ich-Erzählerin in lakonischem Ton und äußerst scharfsichtig über Situationen aus ihrem Schul- und Familienalltag reflektieren. Die Deutlichkeit, mit der Erna die Doppelmoral der Erwachsenen benennt, erscheint für eine Elfjährige anfangs vielleicht ungewöhnlich. Doch von Seite zu Seite wächst einem Erna mehr ans Herz. Dass sie clever genug ist, einen Weg zu finden, dem Übeltäter seine gerechte Strafe zuteil werden zu lassen, ohne sich dabei selbst untreu zu werden, verwundert am Ende nicht. Schön, dass sie dabei von unerwarteter Seite Hilfe erhält und zudem noch das Herz des gut aussehenden Bence gewinnt. (ab 12 Jahre)

Anke Stelling: Erna und die drei Wahrheiten. cbt Kinder- und Jugendbuchverlag, München 2017. 236 Seiten, 12,99 Euro.

© SZ vom 04.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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