Jugendbuch:Die Fälschung an der Wand

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Vor vielen Jahren ist die große Schwester verschwunden - das hat die Familie lange traumatisiert. Dann taucht das Mädchen wieder auf, damit beginnen die eigentlichen Probleme.

Von Antje Weber

Das letzte Foto von Annika zeigt sie vor einem frisch gepflanzten Bäumchen; die Fünfjährige hält in der einen Hand eine rote Kinderschaufel, die andere Hand hat sie zur Faust geballt. Am nächsten Tag fahren die Eltern mit Annika und ihrer kleinen Schwester Mari zum Einkaufen. Zurück kommen sie mit nur einem Kind: Sie haben Annika im Kaufhaus verloren, seither ist das Mädchen vermisst.

Sina Flammang: Mädchen aus Papier. cbt Kinder- und Jugendbuchverlag, München 2017. 346 Seiten, 16,99 Euro. (Foto: N/A)

Dieser traumatische Verlust ist viele Jahre her; Sina Flammangs Roman "Mädchen aus Papier" setzt ein, als die übrig gebliebene Schwester bereits 15 ist. Er erzählt vom komplizierten Leben einer Familie im dauernden Ausnahmezustand: "Am liebsten hätten meine Eltern wohl alles gerahmt, was noch von meiner Schwester übrig ist. Manchmal fühlt sich unser ganzes Haus an wie ein Museum. Annika ist das gestohlene Meisterwerk. Ich bin die Fälschung, die den grauen Schatten an der Wand vergeblich zu kaschieren versucht."

Damit wären ausreichend viele Ingredienzien für ein rührseliges Buch beieinander. Und wer als Erwachsener ein schnelles Urteil fällen will, wird dieses Buch auch angesichts manch stilistischer Schwächen - wie zum Beispiel erschöpfend vieler Wie-Vergleiche - womöglich schnell wieder zuklappen. Doch vor allem Jugendliche sollten weiterlesen, dieser Roman ist für einige Überraschungen gut. Denn bei einer Geschichte über Trauer und Verlust bleibt es nicht - die vermisste Annika taucht tatsächlich wieder auf. Wo andere Bücher nun glücklich enden würden, lässt die Münchner Autorin die Geschichte erst richtig anfangen - und damit auch manche Probleme. Denn Annika wirkt auf ihre Schwester wie ein rätselhafter Zombie: "Das Mädchen auf dem Foto ist der Zellhaufen, der Annika vor zwölf Jahren war. Aber die neue Annika ist eine Fremde."

Wie fremd dieses stundenlang kalt duschende Wesen seiner alten und neuen Familie auf Dauer bleiben wird, das will man als Leserin dann schon genauer wissen. Und bekommt nicht nur allmählich die ganze unheilvolle Geschichte aufgedröselt, sondern etliche weitere Themen aus dem Leben einer Jugendlichen: die Unsicherheit vor dem ersten Kuss; Playstation-Spiele mit der besten Freundin, die nebenbei eine Essstörung hat; ermüdende Sitzungen bei einer als unfähig empfundenen Psychotherapeutin, nicht minder ermüdende Sitzungen in einer jugendlichen Selbsthilfe-gruppe mit einem zunächst ebenfalls als unfähig empfundenen Ehrenamtlichen. Am härtesten urteilt Mari jedoch über die eigenen Eltern, die ihr planlos und überfordert erscheinen: "Meine Eltern kommen mir vor, als wären sie Annikas Kinder, nicht umgekehrt."

Seine Eltern in neuem Licht zu sehen, gehört - einmal abgesehen von der ungewöhnlichen Konstellation in diesem Buch - zum gewöhnlichen Ablösungsprozess jedes Jugendlichen. Die 31-jährige Autorin wirkt insgesamt nah dran am Leben und an der Weltsicht heutiger Jugendlicher. Sie schafft es in ihrem Debütroman, mit dem sie für den Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg nominiert war, eine psychologisch stimmige und fesselnde Geschichte zu entwickeln. Da sieht man darüber hinweg, dass manchmal des Guten doch etwas viel ist; nicht nur beim pathetischen Schluss hätte man der Autorin ein strengeres Lektorat gewünscht. Am Ende pflanzt die Familie jedenfalls einen neuen Baum; die Birke hat so schwere Wurzeln, dass die beiden Schwestern stolpern, sie kommen sich vor wie ungeschickte Totengräber. "Nur dass wir hier neues Leben schenken, quasi", sagt Annika. Zeit für ein neues Foto. (ab 12 Jahre)

© SZ vom 11.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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