Im Kino: Precious:Dünnes Eis

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Precious ist gefangen in ihrem massigen Leib, wird behandelt wie Dreck - doch tief drinnen weiß sie noch, dass sie kostbar ist. Damit triumphiert der Film über schwarze Kritiker.

Susan Vahabzadeh

Würde ist nicht angeboren, sie wird einem zugestanden, und je erbärmlicher diese Zugeständnisse ausfallen, desto härter ist der Kampf um etwas, was wenigstens nach außen hin so aussieht wie Selbstachtung.

Am Anfang des Films sitzt Precious im Klassenzimmer, ganz hinten, ein sehr dickes, ruhiges Mädchen. Vorn steht der Lehrer, ein Weißer, und versucht, durchzudringen in diesem Raum voller lärmender Halbstarker, und dann steht Precious auf, verpasst einem von ihnen eine Kopfnuss und sagt: Ich höre hier zu.

Mit wie viel Würde und Gelassenheit sie durch ihr trostloses Dasein stolziert - sie wird kurz darauf zur Direktorin gerufen, die wissen will, warum sie schon wieder schwanger sei, und antwortet: "Ich hatte Sex" -, das erscheint einem immer erstaunlicher, je mehr man über sie erfährt.

Sie lebt in einer Bruchbude in Harlem, mit ihrer Mutter, die den ganzen Tag berauscht vor dem Fernseher sitzt und sich nur rührt, um ihre Tochter zu schikanieren, das ältere Kind hat sie zur Großmutter abgeschoben und zwingt Precious, die Frau von der Fürsorge zu belügen; beide Kinder sind von dem Mann, der auch Precious' Vater ist.

Precious ist gefangen in ihrem massigen Leib, der ihr aber auch ein Schutzwall ist. Sie wird von allen behandelt wie Dreck, doch tief in ihr drin muss sie noch ein Gefühl dafür bewahrt haben, dass sie precious ist - kostbar.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum der Film nicht rassistisch ist.

Lee Daniels "Precious - Das Leben ist kostbar" war als bester Film bei den Oscars nominiert. Er basiert auf dem einzigen Roman der Dichterin Sapphire, die einst in Harlem als Lehrerin gearbeitet hat, wie eine ihrer Figuren. "Push" taucht in den Bewusstseinsstrom eines Mädchens in Harlem ein, im Jahr 1987, dem nichts erspart bleibt: Crackmutter, Inzest, und schließlich, als sie gerade einen Ausweg entdeckt hat aus der Düsternis, stellt sich noch heraus, dass der Vater sie mit Aids infiziert hat - ganz schön dick aufgetragen, das hat man auch dem Roman damals schon vorgeworfen. Ein paar Probleme weniger hätten es vielleicht auch getan.

Andererseits ist "Precious" eben durchaus eine Entwicklungsgeschichte, die ihre Kraft auch aus dem besonders weiten Weg gewinnt, der hier zurückzulegen ist. Precious kann nicht einmal lesen, aber die Direktorin hat irgendetwas in ihr erkannt, und schickt sie gegen den Widerstand der Mutter auf eine Alternativschule, wo man sich richtig um sie kümmert. Sie findet Freunde und Halt und eine Perspektive. Sie lernt lesen und schreiben - und vor allem lernt sie, sich zu wehren. Du musst, sagt ihre Lehrerin, deine Geschichte erzählen.

Eine wahrlich finstere Geschichte von einem verwahrlosten Ort, es sind die Menschen, die sie erträglich machen müssen, die Licht in sie hereintragen, den Triumph des Individuums über die Verhältnisse feiern; und da sind Lee Daniels wirklich ein paar Casting-Coups gelungen.

Mariah Carey ungewohnt gut

Beispielsweise gerät Precious an eine Sozialarbeiterin mit einem großen Herzen, die Mariah Carey spielt - ungeschminkt, in einer abgewetzten grauen Strickjacke. Sie macht das sehr gut, ist rührend in der Überforderung, wenn sie nach und nach aus Precious herausbekommt, was wirklich los ist in ihrem Leben. Diese Rolle hat nichts von der Diva, als die sich Carey selbst inszeniert; das ist ein bisschen so, als habe Daniels durch sie hindurch gesehen und etwas in ihr entdeckt, von dem sie nicht einmal selbst wusste.

Ganz großartig ist vor allem aber Gabourey Sidibe, die Precious ganz verhalten spielt, fast stoisch, aber so, dass man die Emotionen unter der Oberfläche gerade noch erahnen kann (ganz im Gegensatz zu dem eher kracherten, oscarprämierten Auftritt von Mo'Nique als ihrer Monstermutter).

Für Sidibe, Tochter eines Taxifahrers aus Brooklyn, ist Precious die erste Rolle überhaupt, und sie hat dafür gleich eine Oscarnominierung bekommen; sie hat dieses Mädchen, das zehn Jahr jünger ist als sie selbst, wirklich nur gespielt. Lee Daniels, hat sie in einem Interview erzählt, habe sie aus Hunderten Bewerberinnen ausgewählt, weil sie außer der Statur nichts von Precious hatte: "Er wollte nicht, dass es so aussieht, als würde ein Mädchen, das wie Precious ist, ausgebeutet - ich denke, das hat bei seiner Entscheidung eine Rolle gespielt."

Lautstarke Vorwürfe

Man merkt da schon, wie dünn das Eis ist, auf dem Daniels sich im immer noch von Political Correctness besessenen Amerika bewegte, als er diese Geschichte erzählen wollte - und er ist letztlich, obwohl sein Film mit Preisen und Nominierungen überhäuft wurde, und obwohl er die eigentlich unanfechtbare Unterhaltungskönigin Oprah Winfrey als Produzentin im Rücken hatte, dennoch eingebrochen.

Daniels hat sich lautstarke Vorwürfe eingehandelt - irgendwie hat er wohl den schwarzen Mittelstand beleidigt. Hauptargument ist, dass "Precious" zwar ein historischer Film ist - er spielt 1987 - das aber nur sehr dezent ausweist: in etwas aus der Mode geratenen Werbetafeln und Kleidern, einem Brooke-Shields-Poster hier, einem 80er-Jahre-Filmtitel dort. Auf diese Weise negiere er jede Entwicklung, die Harlem seither zum Besseren durchgemacht hat, lautet der Vorwurf. Und wenn Precious in Tagträume flüchtet, sehen diese aus unerfindlichen Gründen wie die Gegenwart aus.

Daraus aber gleich Rassismus zu machen - das ist schon ein sehr konstruierter Vorwurf, erhoben in der New York Times und in der Washington Post (die Kritiken zum Film selbst waren übrigens in beiden Fällen hymnisch).

Es gibt noch so einen Film, der seine Probleme hat mit der Political Correctness - "The Blind Side", der bei uns ebenfalls in dieser Woche anläuft, Sandra Bullock, die sich bei den Oscars durchgesetzt hat als Adoptivmutter und Retterin eines fast erwachsenen, schwarzen, obdachlosen Jungen. Bei dieser Geschichte wäre aber die einzige Alternative, sie gar nicht zu erzählen: Sie ist so passiert, sie basiert auf der Jugend des Footballspielers Michael Oher - der wurde nun einmal wirklich von einer vermögenden weißen Blondine adoptiert.

Nicht schwarz genug?

Auch "Precious" wurde nebenbei dafür angegriffen, nicht schwarz genug zu sein - Daniels habe bewusst die rettenden Engel mit besonders hellhäutigen Darstellern besetzt, damit sich sein weißes Publikum darin wiedererkennen solle: Carey, Lenny Kravitz als männliche Krankenschwester, und vor allem Paula Patton, Precious' lesbische Lehrerin, insgesamt dann vielleicht doch keine nach spießbürgerlichen Idealen geformte Rolle.

Farbenblind ist ein solcher Vorwurf allerdings weiß Gott nicht. Es zeugt nicht gerade von Antirassismus, in den Gesichtszügen farbiger Darsteller nach der Zusammensetzung ihrer Ahnenreihe zu forschen; eine Absage mit der Begründung "zu hellhäutig" würde nebenbei auch Stoff liefern für einen echten Skandal.

Darf eine Inzestgeschichte nur erzählt werden, wenn sie unter Weißen spielt? Die am besten weder arm noch reich noch regional zuzuordnen oder gar übergewichtig sind, weil die Geschichte sonst Inzest zum Armen-, Südstaaten-, Dicken-Thema macht? Bei dem Begriff der Stereotypisierung bringen die Menschen oft etwas durcheinander: Eine einzelne Geschichte kann diese nie bewirken, das Wesen des Stereotyps ist es doch, dass die immergleiche Geschichte wiederholt wird. Filme über Inszest sind im Kino eher selten. Im amerikanischen Kino (und noch mehr im Fernsehen, wo sich längst die kuschlige schwarze Familienserie durchgesetzt hat) ist eine wie Precious sowieso ein Sonderfall - die Verhältnisse sind zu schrecklich, sie ist zu dick, die Familie ist zu dysfunktional, und daraus kann kaum einer mit so viel Hoffnung einen Film machen, dass man ihn auch aushalten würde.

"Precious" ist, und deswegen hat vielleicht auch schon Sapphire mit der Romanvorlage so dick aufgetragen, aus echtem Elend verdichtete Fiktion.

Oprah Winfrey und ihr Coproduzent Tyler Perry hätten, so schrieb der Kolumnist der Washington Post, Courtland Milloy, nie "einen Film darüber gemacht, wie es ist, wenn man sich über die Herausforderung des Umfelds erhebt." Er sollte sich Precious noch einmal ansehen: Sie erhebt sich über ihr Schicksal. Sie erkämpft sich die Achtung vor sich selbst.

PRECIOUS - BASED ON THE NOVEL PUSH BY SAPPHIRE, USA 2009 - Regie: Lee Daniels. Drehbuch: Geoffrey Fletcher. Kamera: Andrew Dunn. Mit: Gabourey Sidibe, Mo'Nique, Paula Patton, Mariah Carey, Sherri Shepherd, Lenny Kravitz. Prokino, 109 Minuten.

© SZ vom 24.3.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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