Im Gespräch: Mike Leigh:Der Gang der Jahreszeiten

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Chronist des trostlosen Mittelstands: Mike Leighs Filme pendeln stets zwischen rigoroser Heiterkeit und heftiger Depression. Ein Gespräch über Glück und Schmerz, Shakespeare und Orson Welles - und über seinen Film "Another Year".

R. Gansera

Ein Chronist des Mittelstands, des britischen, der noch mal ein wenig trostloser ist als der durchschnittseuropäische. "Naked", "Career Girls", "Happy-Go-Lucky" heißen die Filme von Mike Leigh, sie pendeln zwischen rigoroser Heiterkeit und heftiger Depression. Und das tut auch der neue, "Another Year".

In den Werken des Filmemachers Mike Leigh stehen Komik und Tragik, das Schöne und das Hässliche, das Lustige und das Dramatische ganz eng beieinander. Ganz so wie im wirklichen Leben. (Foto: AFP)

SZ: Sie zitieren gern Shakespeare, die Kunst solle dem Leben einen Spiegel vorhalten. Hat nicht auch Oscar Wilde recht, wenn er sagt: "Das Leben kopiert die Kunst!"

Mike Leigh: Nein - bei aller Hochachtung gegenüber Oscar Wilde -, aber er sagte das mit dem ausdrücklichen, vorsätzlichen Willen, provokant und zynisch zu sein.

SZ: Zynisch?

Leigh: Ja. Er wollte subversiv sein. Das war Teil seines Spiels. Sein interessantes und wichtiges Spiel im Kontext der ästhetischen Bewegung bestand darin, Sitten und Moral der viktorianischen Zeit herauszufordern. In diesem Sinne war das eine zynische, oder doch eine zutiefst ironische Bemerkung, die man dem, was ich, Shakespeare zitierend, ganz schlicht und ernsthaft sage, nicht entgegenhalten kann.

SZ: In der Eröffnungsszene von "Another Year" wird die Frage gestellt: "Wie glücklich sind Sie auf einer Skala von eins bis zehn?" Kann man sagen: Ihr Film handelt vom Glück?

Leigh: Man könnte es sagen, aber es bezeichnet nur eine Ebene. Mein vorhergehender Film trug ja den Titel "Happy-Go-Lucky", der nicht thematisch den Begriff des Glücks vorgeben, sondern eine bestimmte Atmosphäre beschwören wollte. In "Another Year" steht ein Paar im Zentrum, Tom und Gerri, die generös, intelligent, ausgeglichen und ehrlich sich selbst gegenüber sind. Diese beiden sieht man in Beziehung zu anderen, wie zum Beispiel Mary und Ken, die dazu tendieren, sich selbst zu belügen. Der Film handelt vom Glücklichsein des Paares und vom Schmerz anderer Menschen, von der Spannung zwischen Glück und Schmerz, zwischen Glück haben und Pech haben, zwischen Zusammensein und Einsamsein. Das Leben ist komplex, schwierig, reich, harte Arbeit.

SZ: Besonders ergreifend stellt sich die Figur der Mary in ihrem Unglück dar.

Leigh: Mary ist verzweifelt damit beschäftigt, etwas vorzuspielen, was sie nicht ist. Sie steht unter dem Bann, sexy, jung, feminin, erscheinen zu wollen. Sie wurde immer von Männern ausgenutzt und hintergangen. Ihr Leben stellt sich als eine Folge von Katastrophen dar. Sie ist in ihrem Unglück ein Opfer gesellschaftlicher Diktate.

SZ: Ein schönes, beinahe idyllisches Bild für das Glück von Tom und Gerri ist ihr Garten.

Leigh: Der Garten ist ein Bild für die Haltung des Hegens und Pflegens, die Tom und Gerri auszeichnet. Die beiden hegen und pflegen sich, andere Menschen, die Erde, die Zukunft. Der Garten steht auch für den zyklischen Gang der Jahreszeiten, für das Verstreichen der Zeit. Keine sehr subtile, aber doch eine recht anschauliche Metapher.

SZ: Tom und Gerri müssen sich auch nicht über enttäuschte Hoffnungen ihrer Jugend beklagen.

Leigh: So ist es. Die beiden sind mit ihrem Leben im Reinen, da gibt es keine verdrängten Konflikte oder Ambitionen oder enttäuschte Hoffnungen. Ihr Freund Ken aber bricht in diese Klagerufe aus: "Es ist alles vorbei, alles dreht sich nur noch um die Jugend!" Und Mary: Sie stellt ein wandelndes Manifest enttäuschter Hoffnungen und Ideale dar.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Mike Leigh seine Filme vorbereitet.

SZ: Warum stammen die Figuren Ihrer Filme fast ausschließlich aus der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht?

Leigh: Weil ich mich da auskenne. Ich bin in Manchester in solch einem Milieu aufgewachsen. Die Oberschicht gehört nicht zu meinem Erfahrungsbereich. Das heißt jetzt nicht, dass ich autobiographische Filme mache. Ich gehe in eine Welt, mit der ich durch meine Herkunft einigermaßen vertraut bin, um immer Neues zu entdecken, und halte dem Leben dort, siehe Shakespeare, einen Spiegel vor.

SZ: Als Sie 1960 nach London gingen, studierten Sie an der Royal Academy of Dramatic Art. Wollten Sie Schauspieler werden?

Leigh: Nein, ich wollte etwas über das Schauspielen lernen. Ich wolle Stücke und Filme schreiben und in Szene setzen, was ich dann auch - glücklicherweise - tun konnte. Dafür ist es sehr hilfreich, sich zuerst einmal mit der Schauspielerei zu befassen.

SZ: Und was fanden Sie an der Academy über die Schauspielerei heraus?

Leigh: Schwierige Frage. Tatsächlich waren die Lehren und Methoden an dieser renommierten Schule sehr altmodisch, verstaubt, tot. Ich stellte das alles in Frage und ließ mich von den lebendigen, schöpferischen Dingen, die damals in der Kunst passierten, inspirieren. Es herrschte Aufbruchstimmung, und ich interessierte mich für alle Künste: Poesie, Theater, Jazz, Malerei. Ich begeisterte mich für die Filme von Cassavetes, für die Nouvelle Vague, ich entdeckte das Welt-Kino. Als Jugendlicher in Manchester konnte ich nur die amerikanischen und britischen Mainstreamfilme sehen.

SZ: Sie sind bekannt dafür, intensiv mit den Schauspielern zu arbeiten.

Leigh: Sehr früh schon hatte ich die Idee, den Schauspieler nicht nur funktional als Interpreten einer Rolle herzunehmen, sondern mit ihm zusammen die Figur zu erschaffen. Wenn ich mit einem Schauspieler arbeite, gehen wir von null aus und formen die Figur in einer langen, intensiven Probenarbeit. Wir sprechen zuerst über die verschiedensten Dinge, über Gott und die Welt. Wie ich da genau vorgehe, das werde ich nicht verraten, das ist mein Betriebsgeheimnis.

SZ: Sie legen ihm nicht einmal einen kleinen Szenario-Entwurf vor?

Leigh: Nein. Da gibt es keinerlei Vorlagen. Auch die Erzählung entsteht erst aus der Zusammenarbeit mit den Schauspielern, die ja alle sehr versierte Charakterdarsteller sind. Einen Film zu machen, das ist eine Reise, bei der man erst entdeckt, wie der Film aussehen wird. Da wirken dann natürlich auch die anderen Mitarbeiter mit: Kameramann, Tonmann, Designer, Kostümbildner, Cutter. Ein Prozess immer neuer Entdeckungen, Destillationen und Formgebungen.

SZ: Welche Phase der Arbeit lieben Sie am meisten?

Leigh: Ich liebe die Dreharbeiten und die Arbeit im Schneideraum. All die Vorarbeiten sind eine Folter für mich. Wenn dann gedreht wird, ist alles, auch der Dialog, sehr präzise auf Punkt und Komma festgelegt. Ich drehe ja nicht in improvisatorischer Cinéma-vérité-Manier. In meinen Filmen gibt es nur ganz selten Improvisationen. Beim Drehen, da ist das Filmemachen dann - so hat es Orson Welles gesagt - wie ein Spielen mit der Spielzeugeisenbahn.

© SZ vom 27.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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