Deutscher Alltag:Ein Depp unter vielen

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Wegen der Digitalfotografiererei sieht man überall auf der Welt Menschen am langen Arm eine Verpixelungsmaschine halten und ihre Umgebung über einen kleinen Bildschirm wahrnehmen. Ihre Bilder laden sie dann auf einen Computer, wo sie unangeschaut wohnen bleiben. Es sei denn, diese Menschen fotografieren sich selbst.

Kurt Kister

1969 wurde ein Song veröffentlicht, den man leider heute kaum mehr ertragen kann, weil er von Oldie-Sendern zu Tode genudelt worden ist. Damals aber - und auch noch später - war In The Year 2525 von Zager and Evans eine ziemliche Offenbarung, weil er schreckliche Dinge für die weit entfernte Zukunft prophezeite, darunter die In-vitro-Fertilisation (für das Jahr 6565) sowie die alles umfassende Bewusstseinspille (für 3535). Das meiste davon ist bereits eingetroffen, obwohl man noch nicht einmal 2525 schreibt.

Zum Beispiel hat man jetzt Telefone, mit denen man im Urlaub fotografiert und die Bilder dann auf einen Computer lädt, wo sie fürderhin unangeschaut wohnen bleiben. Urlaubsfotos macht man nicht mehr, um den Daheimgebliebenen zu zeigen, wo man war und wie es in Bibione aussieht. Nein, man macht sie, weil man ein Telefon hat, das Fotos machen kann. Könnte das Telefon schmackhaften Saft aus Tauben machen, würde man auch Taubensaft mit dem Smartphone herstellen, besonders wenn man in Venedig ist. Der Taubensaft hätte den Nachteil, dass man ihn nicht als MMS verschicken könnte, was man mit dem Telefonfoto kann. Eigentlich reicht es aus, wenn man auf dem Markusplatz ein Foto aus dem Netz vom Markusplatz herunterlädt und das dann per MMS verschickt.

Wegen der Digitalfotografiererei sieht man überall auf der Welt Menschen herumstehen, die am langen Arm eine Verpixelungsmaschine halten und ihre Umgebung über einen kleinen Bildschirm wahrnehmen. Bei Zager und Evans heißt es für das Jahr 5555, dass die Arme schlapp an der Seite herumhingen, weil some machine ihnen alle Tätigkeit abgenommen habe. Schon im Jahre 2011 hat some machine bei vielen Leuten das Sehen, das Erinnern und allemal das Verstehen übernommen: Ich mache ein Digitalbild, also bin ich. Am meisten bin ich, wenn ich mir die Maschine so vor die Nase halte, dass sie mich selbst fotografiert. Das ist lustig.

Wahrscheinlich hat es noch nie so viele Fotos auf der Welt gegeben wie heute. Und ganz sicher konnte man sich noch nie so viele Fotos von fremden Leuten ansehen wie heute. Gibt man in einer dieser Fotosuchmaschinen zum Beispiel die Begriffe "Bisbee" und "Tourist" ein, dann erhält man Zehntausende Treffer, weil grässlich viele Menschen ihre Bilder aus dem einst beschaulichen Ort Bisbee in Arizona ins Netz gestellt haben. Früher konnte man sich in dem Irrglauben wohlfühlen, einer der wenigen zu sein, der Bisbee heimlich ganz toll fand. In The Year 2011 aber machen einem die Weltverpixler schmerzlich klar, dass man nur ein Depp unter vielen ist.

© SZ vom 09.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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