Bürgerbewegungen:Warum ein digitaler Aufschrei wie #MeToo nicht reicht

People participate in a protest march for survivors of sexual assault and their supporters in Hollywood

Demonstranten während eines Protestmarsches gegen sexuelle Gewalt am 12. November in Los Angeles

(Foto: REUTERS)

Politologe Ronny Patz erklärt, wie sich die Debatte um Sexismus in Gesetze umwandeln lässt - und warum es nicht reicht, die Opposition zu mobilisieren.

Interview von Susan Vahabzadeh

Seit sechs Wochen wird über sexuelle Belästigung debattiert - aber wie verwandelt man eine Debatte in Politik? Ronny Patz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für politische Wissenschaften der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) und forscht zu internationalen Organisationen. Davor war er selbst bei einer NGO: bei Transparency International in Brüssel. An der sozialwissenschaftlichen Fakultät ist er derzeit auch stellvertretender Frauenbeauftragter.

SZ: Wir erleben gerade, wie ein Hashtag, "#MeToo", wochenlang weit über Twitter hinaus und in vielen Ländern die Gemüter erhitzt. Kann man eine Twitter-Bewegung in politische Aktion übersetzen?

Ronny Patz: Social Media sind relativ neu, und deswegen ist auch die Forschung noch in den Anfangsstadien, wie die tatsächlichen Auswirkungen einer solchen Welle der Empörung sich entwickeln.

Gibt es denn Beispiele dafür, dass sich ein Online-Protest ausgewirkt hat?

Im Sommer 2012 hat das EU-Parlament ein Anti-Copyright-Agreement abgelehnt, Acta (Anti-Counterfeiting Trade Agreement). Und das folgte einer mehrjährigen Kampagne von Netzaktivisten, die sich bis hin zur Abschaltung von Wikipedia und Google auswirkte. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Empörungswellen entstehen: Die anfängliche Aufregung muss von bestehenden Organisationen aufgenommen und weitergetragen werden. In dem Fall war es so, und das ist hilfreich: Es stand ja eine konkrete Entscheidung an, und da ließ sich der Online-Protest zum richtigen Zeitpunkt kanalisieren, er konnte sich an die Politik wenden. Alyssa Milano, die Schauspielerin, die den Hashtag #MeToo ins Rollen brachte, hatte schon mehrere Millionen Follower. Das Narrativ "Me Too" existierte aber eigentlich bei Hilfsorganisationen schon vorher - aber die Aufmerksamkeit, das ist bei anderen Fällen auch so, wird erst von Akteuren dorthin gelenkt, die schon eine große Öffentlichkeit mitbringen.

Öffentlichkeit allein hat aber nicht unbedingt Folgen.

Die Forschung zeigt eigentlich, dass die Dynamik, die zu Empörung führt, nicht die gleiche ist, die Veränderungen auslöst. Aus meiner Zeit bei Transparency International in Brüssel kann ich sagen: Wenn solche Wellen, solche Skandale, im Fokus stehen, hilft es, wenn gerade ein Prozess in Gang ist, der zu der Empörung passt. Wenn also beispielsweise in Deutschland oder in den USA ein Gesetzesvorhaben da wäre, wie früher das Abtreibungsgesetz beispielsweise, könnte die Aufregung von NGOs aufgenommen werden. In der Regel wird eine Organisation gebraucht, die einen konkreten Politikvorschlag daraus macht.

Gibt es das auch jenseits von Social Media? Die Silvesternacht in Köln fand doch eigentlich ihren Widerhall weitgehend in traditionellen Medien, und die Diskussion schlug sich ja tatsächlich in einer Verschärfung des Sexualstrafrechts nieder.

Ja, aber die Geschwindigkeit, mit der sich eine Diskussion ausbreitet, und dass sie länderübergreifend stattfindet - das ist tatsächlich eine Besonderheit, die es erst durch Social Media gibt. Und eine Debatte konnte vorher auch nicht von jemandem gestartet werden, der eigentlich keine Medienmacht hat. Das verändert sich aber auch wieder. Zu Beginn der Blogger-Zeit konnte jeder etwas auslösen. Inzwischen sind auch im Netz die wichtigen Akteure klassische Journalisten, klassische Prominente, Großorganisationen mit vielen Followern.

Und wie macht sich ein einfacher Follower bemerkbar?

Bei Acta lief damals sehr viel über Anrufe bei Abgeordneten des EU-Parlaments, das hat einen besseren Effekt als E-Mails. Aber in diesem Fall gab es eine Organisation, die sogar einen Leitfaden zur Verfügung gestellt hat, was man in einem solchen Telefongespräch als Bürger sagen sollte. Es wird schwieriger, wenn die Interessen diffus sind.

Man sollte also wissen, wo man hinwill, wenn man sich auf den Weg macht. Was bei "#MeToo" beispielsweise bedeutet: Wenn sich jetzt sehr viele Frauen darauf einigen würden, dass mehr Frauen mit Macht den Umgang mit Belästigung veränderten, und etwa eine Frauenquote forderten, hätte eine Initiative die Chance, die Aufregung in diese Richtung zu lenken.

Ja. Aber ich würde es einer solchen Bewegung nicht vorwerfen, dass sie das nicht tut. Die Wahrnehmung eines Problems und eine politische Lösung sind unterschiedliche Aspekte. Das ist vielleicht die Grundenttäuschung des Politikwissenschaftlers im Gegensatz zum Bürger: Er hat die Erkenntnis, dass solche Wandlungsprozesse nur sehr langsam vorangehen. Die erhöhte Aufmerksamkeit kann helfen, aber nur, wenn auch die Rahmenbedingungen stimmen.

Und wie müssten die aussehen?

Es darf niemanden geben, der gegen Veränderung eine Blockademacht hat. Wenn in einem Parlament eine antifeministische Mehrheit existiert, kann der Aufschrei vielleicht die Opposition mobilisieren - aber das verändert kurzfristig noch nicht den politischen Prozess. Man braucht zum richtigen Zeitpunkt die richtige Debatte, die richtigen Organisationen und die richtigen Mehrheiten.

So einfach ist es also nicht.

Nein. Aber es vereinfacht trotzdem die Arbeit von NGOs, die sich beispielsweise für Opfer von sexuellen Übergriffen einsetzen und jetzt nicht mehr jeden Tag komplett von vorne anfangen müssen. Und vielleicht mobilisiert es jemanden, sich zu engagieren. Ich bin Frauenbeauftragter - "#MeToo" hilft auch mir indirekt, weil es meine Aufgabe erleichtert. Und ein Ergebnis gibt es ja schon. Die Debatte ist bis in den privaten Bereich vorgedrungen - und zumindest kann jetzt niemand mehr sagen, er kenne keinen, den das betrifft.

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