Buch über Inge Scholl:Hüterin der Rose

Inge Scholl hatte lebenslang nur eine Rolle: Schwester von Widerstandskämpfern. Und sie arrangierte sich bestens, wurde Nachlass-Sammlerin, Erinnerungsverwalterin und vor allem: Herrin über die Interpretation der Weißen Rose. Nun schreibt eine Historikerin über sie - nur über sie.

Rudolf Neumaier

Inge Aicher-Scholl, 1987

Monopol auf Erinnerung: Inge Aicher-Scholl im Jahr 1987

(Foto: DPA)

Geschichten sind nur so lange exklusiv, bis sie einmal erzählt sind. Und Heldengeschichten sind auf dem Markt, sobald sie sich ereignet haben. Also musste die arme Inge zusehen, wie ihr ein Exil-Schriftsteller gleich nach dem Krieg die Story klaute. Ihre, ihre, ihre Story. Die Geschichte ihrer Geschwister Hans und Sophie Scholl. Die Geschichte, die später Kinos füllen sollte, zuletzt vor sieben Jahren, in dieser wohlfühlrebellischen Wir-sind-Helden-Zeit, in die sich das Heldinnendrama "Sophie Scholl" mit der Protoheroin Julia Jentsch so fein fügte.

Das war einmal Inges Geschichte, jedenfalls fühlte sich die Schwester von Sophie und Hans Scholl dieser Geschichte verpflichtet - weil sie sie am besten kenne. Doch auf Geschichte gibt es keine Exklusivrechte.

Inge Scholl, Jahrgang 1917, war ihr Leben lang die Schwester. Sie arrangierte sich bestens mit dieser Rolle. Sie war mit ihnen in Ulm aufgewachsen, sie hatte sie in München besucht, wo sie studierten, mit Flugblättern gegen Hitler kämpften und deswegen enthauptet wurden. Und danach war sie Nachlass-Sammlerin, Erinnerungsverwalterin und vor allem: Herrin über die Interpretation.

Wie vielen Zeitzeugen des Dritten Reiches fiel es ihr schwer, jüngeren Generationen eigene Sichtweisen auf und Erkenntnisse über die NS-Geschichte zuzugestehen. Wer kennt nicht die Gegenwehrfrage "Wie wollt ihr das beurteilen, ihr habt es ja nicht erlebt"?

So plump drückte sich Inge Scholl nicht aus, sie war gescheit und hatte in ihrem Ehemann, dem Grafiker Otl Aicher, einen versierten Begleiter auf dem öffentlichen Parkett.

Geschichtsschreibung - nur Stuß

Historiker aber schätzte sie gering: Im Jahr 1984 schrieb sie in ihr Tagebuch, Geschichtsschreibung halte sie für ein "Zusammenschustern" von Gestapo-Protokollen und Aussagen von Zeitzeugen - heraus komme nur "Stuß". Und sie verachtete "Geschichtsschreibung, die wie eine fröhliche Straßenwalze unwegsame Trampelpfade, Spuren, die als Spuren belassen bleiben sollten, fröhlich plattfährt, sodaß jedermann auf dieser Straße losmarschieren kann".

Das Verdikt hat die Historikerin Christine Hikel offensichtlich zu einer sensiblen und dennoch bestechend nüchternen Studie angespornt. Sie machte Inge Scholl zum Gegenstand ihrer Arbeit. Hikels brillante Bielefelder Dissertation, die das Institut für Zeitgeschichte in der Reihe "Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte" nun herausgibt, stellt wesentlich mehr da als eine historische Biografie: Das Buch macht den bundesrepublikanischen Zeitgeist zwischen 1945 und den Achtzigern transparent, der sich in der kollektiven Erinnerung an die Weiße Rose spiegelte.

Von Anfang an beanspruchte Inge Scholl die Prärogative für sich. Die Angehörigen der anderen Weiße-Rose-Mitglieder konnten sich schon deswegen kaum behaupten, weil Hans und Sophie Scholl schon von den Nazis zu Hauptakteuren der Widerstandsaktionen erklärt worden waren.

Im Zentrum der Erinnerungspolitik

Also lief die Erinnerung bei Inge Scholl zusammen - und ging von ihr aus. Noch während des Krieges und in den ersten Monaten danach betrachtete sie ihre ermordeten Geschwister als Heilige, ihren Mut führte sie auf den Glauben zurück.

Inge Scholl war zu dieser Zeit sehr religiös. Mit christlichen Motiven konnte die deutsche Nachkriegsgesellschaft nicht viel anfangen. Sie brauchte eine andere Erklärung für das, was sie gerade erlebt und vor allem mitgemacht, mitverantwortet hatte. Die Deutschen sahen sich als Opfer eines Regimes, und die Weiße Rose zeigte, dass Widerstand eine moralische Mission war, die zwangsläufig mit dem Tod endete. "Widerstand war kein Vorwurf an diejenigen, die geschwiegen hatten", schreibt Hikel, "sondern eine Bestätigung dieser Verhaltensweise als der klügeren." Inge Scholl rückte ins Zentrum der Erinnerungspolitik.

Allein der Exil-Schriftsteller Alfred Neumann, der die Weiße-Rose-Story in seinem Roman "Es waren ihrer sechs" verbriet, düpierte sie. Der Roman erschien in Deutschland 1947, und Inge Scholls Kampagne gegen Neumanns Buch scheiterte. Es dauerte bis 1952 - bis sie es mit ihrem eigenen Werk "Die Weiße Rose" aus den Regalen der Buchhändler verdrängte.

Fortan wurde der Widerstand gegen die Nazis als eine bürgerliche Angelegenheit gedeutet, im Wettbewerb der BRD gegen die DDR war die Weiße Rose ein kultureller Trumpf. Hikel hat in ihrer akribisch recherchierten Arbeit Schulaufsätze aus den Fünfzigern gefunden, die belegen, wie Inge Scholls Buch die Volkserinnerung prägten. In den Sechzigern entglitt ihr das Gedenkmonopol. Sie dosierte, was sie an Material aus ihrem Archiv preisgab. Doch die Geschichtsdeuter holten sich andere Quellen. Eine gewisse Ulrike Meinhof stufte die Weiße Rose von der Widerstands- zur Protestgruppe herab, den 68ern galten die Geschwister Scholl als unpolitische, lediglich idealistische Schwärmer.

Lange redete keiner mehr über sie, bis Michael Verhoeven 1982 den ersten großen Film drehte. Inge Scholl hatte Einwände, ließ ihn aber gewähren. Das Heldenepos mit Julia Jentsch erlebte sie nicht mehr. Als sie im 1998 starb, war das erste Attribut, das in den Überschriften der Nachrufe stand: die große Schwester von Hans und Sophie.

Christine Hikel: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose. Odenbourg Verlag, München 2012. 278 Seiten, 29,80 Euro.

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