"American Honey" im Kino:Hommage an den Größenwahn der Jugend

"American Honey" im Kino: Abheben, Hinfallen und wieder Aufstehen: Das Liebespaar Star (Sasha Lane) und Jake (Shia LaBeouf) auf Roadtrip durch Amerika.

Abheben, Hinfallen und wieder Aufstehen: Das Liebespaar Star (Sasha Lane) und Jake (Shia LaBeouf) auf Roadtrip durch Amerika.

(Foto: Universal)

In "American Honey" fahren Sasha Lane und Shia LaBeouf durch den Mittleren Westen der USA und suchen nach Freiheit in einem desillusionierten Land.

Von David Steinitz

Das Roadmovie "American Honey" beginnt mit einem halb aufgetauten Supermarkthuhn. Es liegt, verschweißt und schwitzend, in einem von der Sonne beschienenen Müllcontainer vor einem Supermarktparkplatz.

In diesem Container wühlt ein 18-jähriges Mädchen mit seinen zwei kleinen Geschwistern nach Lebensmitteln. Das Huhn wird unter stoischer Verachtung des Mindesthaltbarkeitsdatums sowie der Salmonellen, die darin vermutlich eine Party feiern, in den Rucksack gepackt. Daheim dient es dem Bruder als Spielzeug. Der Junge schiebt es, halb aus der Folie gezogen, auf dem Küchenfußboden hin und her, der sich in einem Zustand befindet, bei dem es auch schon egal ist, ob man ihn noch mit einem rohen, blutigen Huhn poliert.

Eine Hommage an den biologisch programmierten Größenwahn der Jugend

Das soziale Milieu, in dem diese Geschichte spielt, ist hiermit gesetzt, und der Grund, warum man ihm besser entfliehen sollte, gleich mit. Das Mädchen, welches das Huhn aus dem Müll gefischt hat, ist der Star dieses Films, und sie heißt auch tatsächlich so: Star. Sie ist von einem Lebenshunger beseelt, der sie heraustreibt aus der White Trash-Hölle, in der ihr Vater sie ständig begrapscht und die Mutter längst abgehauen ist. Sie wird von der Amerikanerin Sasha Lane gespielt, die, wie die meisten anderen Darsteller des Films auch, das erste Mal vor der Kamera steht.

Im Supermarkt hat Star eine merkwürdige Begegnung, die ihr zur Flucht aus der Tristesse verhilft. Da grinst sie an der Kasse ein junger Mann mit Piercing unter der Augenbraue an, dessen Haare so unverschämt perfekt verwuschelt sind, dass sie sich einfach sofort in ihn verlieben muss. Der komische Kerl springt auf einen der Kassenschalter und fängt an zu tanzen, weil aus den Supermarktlautsprechern ein Rihanna-Song mit unwiderstehlichem Beat ertönt. "We found love in a hopeless place", singt sie, und schöner kann man diese Begegnung in einem trostlosen Vorstadt-Walmart nicht zusammenfassen.

Der Junge Jake (Shia LaBeouf) überredet Star, sich seiner Clique aus jugendlichen Herumtreibern anzuschließen, die im Kleinbus durchs amerikanische Hinterland pilgern, Partys feiern und von Haustür zu Haustür ziehen, um den Menschen ein recht anachronistisches Produkt anzudrehen: Zeitschriftenabos.

Star schließt sich dem bunten, zugedröhnten Haufen an, und es beginnt eine Reise durchs amerikanische Kernland, Oklahoma, Nebraska, Nord- und Süd-Dakota. Diese Reise legt die britische Regisseurin Andrea Arnold ein bisschen als Panorama jenes vergessenen Amerikas an, das zwischen den glamourösen Großstädten an Ost- und Westküste gern übersehen wird. Vor allem aber ist "American Honey" eine Coming-of-Age-Meditation über ein Mädchen, das die Welt und sich selbst entdecken will, ohne jemals wieder Kompromisse machen zu müssen.

Anti-Mainstream mit kastrierter Landschaft

Für diese Hommage an den biologisch programmierten Größenwahn der Jugend ist Arnold im Frühjahr in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet worden, zum drittel Mal bereits. Die Britin ist mit ihren Filmen in den letzten Jahren zu einem Liebling der Festivalszene geworden, mit ihrem Teenager-Drama "Fish Tank" von 2009 und ihrer Emily Brontë-Verfilmung "Wuthering Heights" von 2011. Seitdem hat sie drei Folgen der Amazon-Serie "Transparent" inszeniert und dreht mit "American Honey" nun das erste Mal einen Kinofilm in den USA. Der Film hat sich seit seiner Weltpremiere in Cannes zu einem großen Festivalrenner entwickelt, in Toronto, London, Zürich, wo er als Highlight des diesjährigen Independent-Kinos gefeiert wurde.

Unter dramaturgischen Gesichtspunkten ist der Film auch absoluter Anti-Mainstream, weil er überhaupt keiner klassischen Kinodramaturgie folgt. Stattdessen sieht er knapp drei Stunden seiner Protagonistin beim Abheben, Hinfallen und Wiederaufstehen zu, ohne das am Ende eine Katharsis stünde. Ein trostloses Motel wird vom nächsten abgelöst, eine Zigarette nach der anderen geraucht, an eine Haustür nach der anderen geklopft, gelegentlich gibt es Sex. Trotzdem steckt gerade in der Monotonie die Erotik dieses Films, und die entsteht durch einen technischen Trick der Regisseurin.

Das uramerikanische Genre des Roadmovies wirkt in diesem Film wie kastriert

Der Film ist im Bildformat 4:3 gedreht worden, was auf der Leinwand ein recht quadratisches Bild ergibt und im Kino vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich war. Danach wurde dieser Standard von Breitbildformaten abgelöst, mit denen die Leinwände sich immer weiter vergrößert haben, weil die Kinomacher der Konkurrenz des Fernsehens neue Schauwerte entgegenstellen mussten. Gerade das uramerikanische Genre des Roadmovies, das den Zuschauer die Weite der Landschaft und des Himmels spüren lassen möchte, wird praktisch immer im Breitbildformat gedreht.

Wenn Arnold ihre Geschichte nun wieder nach der alten Norm dreht, hat das einen interessanten Effekt: die Highways, die Trailerparks, die Ölfelder und die Skylines der Städte, die in "American Honey" vorüberziehen, wirken durch die Beschneidung an den Bildrändern wie kastriert, ihrer eigentlichen Größe und Weite beraubt. Was sehr schön die tatsächliche Kastration eines Landes widerspiegelt, das längst seine Frontier verloren hat, jene magische Grenze, hinter der so viele Abenteuergeschichten im Kino begannen. Aber das Grenzland ist besiegt in diesem Film, trostlos besiedelt und zubetoniert mit Malls und Parkplätzen und kreditfinanzierten Billighäusern.

So sehr das Format 4:3 die Landschaft ausblendet, so sehr rückt es dafür die Protagonisten in den Mittelpunkt, die dafür die ganze Leinwand einnehmen. Es ist ein Porträtformat, sagt die Regisseurin. Arnold registriert jedes Erröten ihrer Hauptdarstellerin beim Flirt mit Jake, jedes kleine Zucken um die Mundwinkel, wenn Star zu registrieren beginnt, wie Männer auf sie reagieren; auch jeden melancholischen Blick, mit dem sie ihren Zigarettenrauch aus dem Autofenster pustet, und die verträumte Selbstvergessenheit, mit der sie sich den abblätternden Nagellack von den Fingerspitzen kratzt.

Für den Filmtitel "American Honey" hat sich die Regisseurin vom gleichnamigen Songtitel der Country-Band Lady Antebellum inspirieren lassen, die darin ein junges Mädchen besingt, das mit heißer Sehnsucht erfüllt ist und sich in ein wildes Sommerabenteuer träumt. Eine solche Geschichte erzählt auch der Film, nur kann das einst so weite Land, in dem dieses Abenteuer stattfinden soll, einfach nicht mehr mit der Größe der Teenagerträume mithalten.

American Honey, USA 2016 - Regie, Buch: Andrea Arnold. Kamera: Robbie Ryan. Mit: Sahsa Lane, Shia LaBeof, Riley Keough, Arielle Holmes, Crystal Ice. Universal, 163 Minuten.

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