Jugendliche im Casting-Wahn:Weniger Lehrer, mehr Dieter Bohlen

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Warum wollen Jugendliche eigentlich dauernd gecastet werden? Reichen ihnen die Tests und Proben in der Schule nicht? Lehrer sollten vielleicht einfach alles filmen - oder ein paar grobe Beschimpfungen lernen.

Jutta Göricke

Sportstunde. Die Wände der Turnhalle strömen den Schweiß von 100 Jahren aus. Auch Denise schwitzt, nicht vor Anstrengung, sondern weil sie Angst hat. Wie nur sollen sie und ihre 85 Kilo Lebendgewicht diesen blöden Aufschwung am Reck schaffen? Die ersten Klassenkameradinnen kichern schon, der Sportlehrer verzieht gequält das Gesicht. Mutlos greift Denise mit beiden Händen die Reckstange, versucht sich hochzuziehen, und plumpst schließlich runter wie ein nasser Sack. "Denise", brüllt Lehrer Detlef D., "wat meenste, wat wa hier tun? Du musst allet geben. Eens sag ick dir, wenn du dich nicht anstrengst, fliegste!"

Auf der Suche nach klaren Ansagen: Jugendliche lieben demütigende Castings. Weil Lehrer und Eltern zu wenig autoritär sind? (Foto: dpa)

Denise weint erst ein bisschen, dann rafft sie sich auf und spricht entschlossen in die Kamera: "Ich will ja. Ich will alles geben. Ich weiß, dass ich das kann. Und außerdem habe ich viele Facetten." Und dann, nach dem Schnitt, schwingt sie sich auf, fast wie eine Eins. Sie ist jetzt toll geschminkt und hat das quergestreifte Shirt gegen ein schwarzes mit Hello- Kitty-Glitzer getauscht. Das macht schlank und zeigt: Hey, ich bin motiviert. Und hey, ich schaff das.

Schüler, die Biss haben. Die sich auf die Sache konzentrieren und nicht unter der Bank twittern. Und die auf ihre Lehrer hören, ihnen mit Respekt begegnen, stets pünktlich und diszipliniert sind, nie schwänzen... Ja, wenn es doch nur so liefe in der Schule. Das würde die Burnout-Rate des Lehrpersonals vermutlich halbieren. Dabei geben sich die meisten Pädagogen wirklich Mühe, sind verständnisvoll und geduldig. Warum dann nur diese Renitenz? Liegt es an der fehlenden Kamera im Klassenraum?

Vielleicht sollten die Lehrer ganz einfach das Brüllen einführen. Wie Ober-Popstar Detlef D! Soost, der seinen Zöglingen sehr klartextlich vermittelt, wo der Hammer hängt. Oder unflätige Beschimpfungen loslassen, wie sie Ober- Superstar Dieter Bohlen meisterlich beherrscht. Kann sich doch jeder Musiklehrer leicht aneignen, so was: "Die Rammelgeräusche meines Lieblingshasen sind rhythmischer als dein Gitarrenspiel" oder "Lieber Cholera auf'm Pillermann als dein Gesang". Eine ordentliche Schülerbeschimpfung am Morgen vertreibt auch eigenen Kummer und Sorgen.

Außerdem: Sie wollen es doch nicht anders. 34.420 Bewerber hatte die siebte Superstar-Staffel. 34.420 Freiwillige, die sich vor einem Millionenpublikum demütigen lassen. Sich von Runde zu Runde quälen. Texte und Melodien lernen, was das Zeug hält. Mit wenig Schlaf auskommen. Hundertmal dieselben Tanzschritte üben. Eine Höllenangst davor haben, die nächste Prüfung ("Recall") zu vergeigen ("verkacken"). Und doch immer wieder dem Druck standhalten. Warum tun sie sich das an?

Da muss der Psychologe ran. Michael Winterhoff, umstrittener Experte für aus dem Ruder gelaufene Kinder und Jugendliche, vermutet, dass - na klar - die Erziehung daheim verantwortlich dafür ist, dass Kinder sich wenig respektvoll verhalten oder gar zu kleinen Tyrannen werden. Weil ihre Eltern sie wie Kumpels behandeln und ihnen keine konsequente Anleitung fürs Leben geben. Dadurch verharren sie psychisch auf dem Niveau eines Kleinkindes, auch noch mit 18 Jahren, sagt er. Muffelig und nervig, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Das ist traurig.

Aber muss man dagegen so aufbegehren, dass man autoritäre Typen sucht, die einen anbrüllen und brutalstmöglich aburteilen? War das nicht mal andersrum, damals als alle Batikhemden trugen und sich gegen ihre autoritären Eltern auflehnten? Muss das wirklich sein, Denise?

© SZ vom 22.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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