Frage an den Jobcoach:Darf ich den Chef per Sammel-E-Mail als Kollegen ansprechen?

Xavier S. fürchtet, einen Etikette-Fauxpas begangen zu haben. Nun bitte er den SZ-Jobcoach um Rat.

SZ-Leser Xavier S. fragt: Ich bin Projektmanager in einem Zulieferer-Unternehmen und habe vor einiger Zeit eine Mail an die ganze Abteilung geschickt, um über einen Termin zu informieren. Auch den Chef habe ich in den Adressverteiler aufgenommen, weil die Info ihn ebenfalls betraf. Als Anrede habe ich geschrieben: "Liebe Kollegen und Kolleginnen". Nun habe ich erfahren, dass unser Chef sich sehr geärgert hat, dass ich ihn als Kollegen bezeichne. Habe ich einen Fauxpas begangen? Soll ich mich offiziell entschuldigen oder es besser aussitzen?

Jan Schaumann antwortet:

Lieber Herr S., hoffentlich greife ich mit der Anrede nicht daneben, wenngleich ich guter Dinge bin, dass Sie sich durch "Lieber Herr S." nicht überrumpelt fühlen. Immer wieder höre ich von Missstimmungen, die durch vermeintliche Unachtsamkeiten ausgelöst wurden. Die unangemessene Form der Anrede unterliegt meiner Wahrnehmung dabei seit Jahren einem gewissen Wandel.

Der SZ-Jobcoach

Jan Schaumann war in verschiedenen Führungspositionen in international operierenden Unternehmen in Europa, Asien und den USA tätig. Heute lebt er als Managementtrainer, Seminarleiter und Buchautor in Berlin.

Wäre es in den 1950er-Jahren noch ein Sakrileg gewesen, den Vorgesetzten nicht mit "Chef" oder "Herr Direktor" anzureden, ist heutzutage der Name der jeweiligen Person üblich. In vielen Unternehmen hat zudem bereits der Vorname als gängige Anredeform Einzug gehalten.

Woran liegt das? Zum einen daran, dass unsere Gesellschaft nach und nach egalitärer wird. Standesunterschiede und die förmliche Abgrenzung sozialer Schichten existieren im privaten Alltag de facto nicht mehr. Natürlich bekleiden Menschen im Laufe ihres Lebens unterscheidbare, soziale Funktionen oder berufliche Positionen - jedoch nicht mehr im Sinne der früheren Stände. Im beruflichen Bereich werden Hierarchien flacher. Etliche Unternehmen verzichten darauf, Hierarchien - wenn sie denn überhaupt existieren - nach außen zu kommunizieren. Auch intern pflegen sie einen kollegialen, vertrauensbasierten Umgang. Das gilt nicht nur für die gerne zitierten Start-ups, auch etablierte und nicht gerade erfolglose Läden wie zum Beispiel Hewlett Packard gehören dazu.

Allerdings trifft das bei Weitem nicht für alle Firmen zu. Und erst recht nicht für alle Menschen in diesen Unternehmen. Denn manche Führungskräfte sehen in diesen kleinen Claim-Absteckungen eine der letzten verbliebenen Möglichkeiten, sich im kollektiven Großraumbüro ein wenig abzugrenzen. Wenn schon mein Eckbüro zugunsten einer partnerschaftlichen Atmosphäre entfallen ist, schaffe ich mir meine virtuelle Trutzburg durch die kommunizierte Bedeutung einer in meinen Augen angemessenen Form der Anrede.

Suchen Sie ein Gespräch unter vier Augen

Bitte verstehen Sie mich richtig - das meine ich vollkommen wertfrei. Kommunizierte und gelebte Hierarchien können auch eine Möglichkeit der Orientierung schaffen. Es ist also häufig Ausdruck einer bestimmten Unternehmenskultur oder eines persönlichen Wertesystems. Führungsstile können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Davon kann ich aus Hunderten Workshops zum Thema Führungskräfteentwicklung ganze Liederbücher singen.

Außerdem spielt eine Rolle, dass wir beruflich um ein Vielfaches mehr schreiben als vorherige Generationen. Die E-Mail hat das Telefon als Kommunikationsmedium Nummer eins längst verdrängt, hinzu kommen diverse Messenger- und Kurznachrichtendienste. Alles zusammengerechnet schreiben wir inzwischen fast doppelt so viel, wie wir telefonieren.

Dass die Quantität nicht zwangsläufig zu Lasten der Qualität und erst recht nicht der Wertschätzung gehen muss, empfinde ich als elementar. Auch die x-te Mail sollte, je nach Dialogcharakter der Konversation, möglichst mit Anreden und Grußformeln versehen sein und durch die Abwesenheit von Orthografie- und Grammatikfehlern glänzen.

Und wenn wir gerade bei den Anreden sind, gilt es, sich Gedanken über die Empfänger zu machen. Sie haben, das unterstelle ich Ihnen jetzt einfach mal, in bester Absicht gehandelt, als Sie sämtliche Empfänger mit "Liebe Kollegen und Kolleginnen" angesprochen haben. Davon abgesehen, dass auch im Zeitalter des genderneutralen Umgangs im professionellen Umfeld, das Ladies-first-Prinzip in unserer Kultur noch immer eine halbwegs sichere Bank ist und die "Kolleginnen" daher vor den "Kollegen" stehen sollten, haben Sie gegrüßt. Das hat für mich als Berliner schon einen gewissen Stellenwert.

Wenn Sie nun wissen, dass sich Ihr Chef nicht als Kollege sieht, sollte es Ihnen bei der nächsten Sammel-Mail ein Leichtes sein, diese mit "Sehr geehrter Herr XY, liebe Kolleginnen und Kollegen" zu überschreiben. Es gibt sogar Führungskräfte, die achten auf die Reihenfolge der eingetragenen E-Mail-Adressen. Auch wenn diese vom Mailserver gegebenenfalls alphabetisch sortiert werden.

Nachdem Sie von der Verstimmung Ihres Chefs erfahren haben, kann ich Ihnen nur empfehlen, das Gespräch mit ihm zu suchen. Zwar mag das Prinzip des Aussitzens in der Politik eine gewisse Aussicht auf Erfolg zu haben, in beruflicher Hinsicht und unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist es eine denkbar schlechte Option. Sorgen Sie für ein Gespräch unter vier Augen und offenbaren Sie Ihrem Vorgesetzten, dass es Ihnen keineswegs darum ging, ihn zu degradieren. Wenn Sie nun noch um Entschuldigung bitten (nicht zu verwechseln damit, unter Tränen und auf Knien um Vergebung zu winseln) und die Aussicht darauf kommunizieren, dass Sie ab sofort darauf achten, ihn in Ihren Mails stets separat anzureden, wird die Verstimmung hoffentlich bald weichen.

Ihre Frage an den SZ-Jobcoach

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