Emmely und die Folgen:Die ewige Vertrauensfrage

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Arbeitnehmer dürfen nicht klauen - und Arbeitgeber endlich nicht mehr maßlos strafen. Eine lange Betriebszugehörigkeit darf trotzdem kein Freibrief sein.

Ulrich Fischer

Selten hat ein Gericht so vielen Menschen aus der Seele gesprochen wie das Bundesarbeitsgericht Mitte Juni: Es erklärte die Kündigung der Kassiererin "Emmely" für unwirksam, die Pfandbons über 1,30 Euro eingelöst hatte, die ein Kunde liegen ließ. Früher entschied das Gericht in solchen Fällen gegen die Arbeitnehmer - dieses Urteil wird die Rechtsprechung verändern. Zwei prominente Rechtsanwälte diskutieren die Folgen. Ulrich Fischer vertritt Arbeitnehmer vor Gericht. Ihm folgt der Arbeitgeber-Anwalt Jobst-Hubertus Bauer.SZ

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Dürfen Arbeitnehmer ihre Kollegen, ihren Arbeitgeber oder dessen Kunden bestehlen, betrügen oder dürfen sie unterschlagen? Nein! Darf der Arbeitgeber wegen einer solchen Tat sofort zur Höchststrafe, der fristlosen Kündigung, greifen? Nein! Mit diesem prägnanten doppelten Nein lässt sich das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) im Fall Emmely zusammenfassen. Und deshalb ist die Hoffnung nicht unbegründet, dass es die nötige Sachlichkeit in die Debatte um so genannte Bagatellkündigungen bringt.

Denn die ist schon deshalb geboten, weil es in den Betrieben darum geht, den jeweiligen Vertrauensvorschuss angemessen zu behandeln, den sich beide Seiten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer geben. Der Arbeitnehmer vertraut bei Eintritt in ein Arbeitsverhältnis darauf, dass der Arbeitgeber seine persönlichen Daten schützt, Gesundheitsgefahren von ihm abwendet und ihn anständig behandelt.

Der Arbeitgeber vertraut darauf, dass der Zugriff, den er dem Mitarbeiter auf das Eigentum des Unternehmens gewährt, so ausgeübt wird, wie das jede Rechtsordnung erwartet, unter absoluter Beachtung des fünften Gebots. Das ist nicht nur eine Frage des Anstandes, wie die Präsidentin des BAG vor einigen Monaten in einem SZ-Interview betonte, sondern eine nicht verhandelbare Forderung der Rechtsordnung insgesamt, nicht nur des Arbeitsrechts.

Das Arbeitsrecht hat die Besonderheit, dass es Menschen über einen langen Zeitraum, mit erheblicher Auswirkung auf ihre Lebensführung, zusammenbringt und deshalb auch alle Risiken einer solchen Lebens-Gemeinschaft aufweist. Ein solches Risiko kommt in dem Sprichwort "Gelegenheit macht Diebe" zum Ausdruck. Arbeitgeber verzichten aus Kostengründen gern auf die althergebrachte Art, ihr Eigentum zu schützen, sie überlassen es dem Mitarbeiter ohne Aufsicht durch Vorgesetzte oder andere Dritte. Videoaufzeichnungen und ähnliche Techniken sollen es dann richten.

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Aber wird nicht der Anstand jedes Menschen überfordert, wenn nur darauf vertraut wird, dass sich der fehl- und verführbare Mensch als Arbeitnehmer immer daran erinnert, dass er nicht stehlen soll? Muss nicht ein vernünftiger Arbeitgeber Vorsorge tragen, dass sein Eigentum absolut geschützt wird, auch wenn es nur Maultauschen und Frikadellen sind? Ist es wirklich gerecht, das Risiko aus dem Verzicht auf diese Vorsorge dem wirtschaftlich Schwächeren aufzuerlegen? Im Emmely-Fall ging es schließlich um Dimensionen, bei denen normalerweise, und sei es nach einer Ermahnung, niemand mehr ein Wort verlieren würde.

Das Urteil im Fall Emmely wird Folgen haben. (Foto: ddp)

Wo hier die Schmerzgrenze des nicht mehr Tolerablen liegt, hat das BAG zu Recht nicht generell entschieden. Denn eine Bagatellgrenze, wenn sie denn sachlich begründbar wäre, könnte allzu leicht als Einladung zu rechtswidrigem Handeln missdeutet werden. Nein, die Richter haben im besten Sinne ihres Amtes gewaltet: Sie haben einen konkreten Fall angesichts der konkreten Umstände richtig entschieden und dabei doch Grundsätzliches zum Ausdruck gebracht. Daran können sich nun die Arbeitsgerichte und die Arbeitgeber, die bislang nur den Bienenstich-Fall von 1984 vor Augen hatten, orientieren. Damals hatte das BAG die Kündigung einer Bäckereiverkäuferin für rechtens erklärt, die kurz vor Geschäftsschluss einen Bienenstich gegessen hatte, der ohnehin weggeworfen worden wäre.

Die Schädigung von Vermögen des Arbeitgebers durch einen Arbeitnehmer ist ein Rechtsverstoß. Daran gibt es weiter nichts zu deuteln, unabhängig von der Höhe des Betrages, um den es geht. Die Frage nach den arbeitsrechtlichen Sanktionen, die einem solchen Rechtsverstoß nachfolgen, ist damit aber eben noch nicht automatisch beantwortet. Der Arbeitgeber hat die Verantwortung, den Rechtsverstoß des Arbeitnehmers in den betrieblichen Gesamtzusammenhang zu stellen, in den er gehört. Er muss der Versuchung widerstehen, ihn zum Anlass für eine Kündigung zu nehmen, die ansonsten nicht möglich wäre. Das ist und war ja gerade der mehr als fade Beigeschmack von Bagatellkündigungen: Es geht im Grunde gar nicht um das konkrete Fehlverhalten des Arbeitnehmers, sondern um den allgemeinen Wunsch des Arbeitgebers, ihn loszuwerden und die Abfindung zu sparen.

Da auch Arbeitgeber wissen, dass auf dieser Erde nur wenige wandeln, die ohne Rechtsverstoß in den Himmel kommen, inklusive sie selber, ist es ethische und rechtliche Pflicht, vor jeder fristlosen Kündigung wegen eines Verhaltens- oder Rechtsverstoßes, alle Umstände des Falles zu berücksichtigen. Dazu gehören Höhe und Art des Schadens, aber auch die Frage, unter welchen betrieblichen Rahmenbedingungen er eintrat, ob es sich um einen Wiederholungsfall handelt oder um erstmaliges Geschehen. Dabei ist natürlich auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit von Bedeutung.

Auch hier darf das BAG nicht missverstanden werden: Lange Betriebszugehörigkeit ergibt keinen Freibrief für Vermögensdelikte, sondern legt nur dem Arbeitgeber die Pflicht auf, ernsthaft zu prüfen, ob nicht auch eine Abmahnung ausreicht und dem Arbeitnehmer noch eine Chance gegeben werden kann. Anders formuliert: Ein Arbeitnehmer, der sich über Jahre hinweg durch untadelige Arbeit einen positiven Vertrauenssaldo geschaffen hat, kann erwarten, diesen im Fall des Falles auch einmal zu seinen Gunsten einzusetzen. Denn man kann es natürlich auch umgekehrt sehen: Je länger eine betriebliche Zusammenarbeit dauert, desto größer ist das Risiko, dass es trotz allen guten Willens (oder auch ohne diesen) einmal zu einer Fehlleistung kommt. Diese dann reflexmäßig zum Anlass für eine Kündigung zu nehmen, widerspricht elementar sowohl dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unserer Rechtsordnung, als auch dem so genannten Ultima-ratio-Prinzip des Arbeitsrechts: Die fristlose Kündigung kann immer nur allerletztes Mittel einer arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung sein.

© SZ vom 21.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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