Arbeitsweg:Zweitjob: Pendeln

Die Werdenfelsbahn an der Haltestelle in Tutzing, 2014

Verlorene Zeit oder entspannte Passage ins Privatleben? 8,5 Millionen Deutsche sind täglich länger als eine Stunde zur Arbeit unterwegs.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Sie wollen Karriere machen, aber das vertraute Umfeld nicht aufgeben - 8,5 Millionen Pendler sind jeden Tag in Deutschland teils stundenlang unterwegs. Gesund ist das nicht.

Von Martin Scheele

Lisa Kitterer ist eine typische Vertreterin der "Generation erfolgreich". Mit 32 Jahren leitet sie die Personalentwicklung beim Automobilzulieferer Kirchhoff. Ihre Kollegen sind auf der ganzen Welt verstreut, die Zentrale ihres Arbeitgebers liegt im Sauerland, in Iserlohn. Mit 90 000 Einwohnern ist Iserlohn zwar keine Kleinstadt, versprüht aber nicht den Charme einer Metropole wie Köln, wo Kitterer wohnt.

Die Personalchefin pendelt also. Sie gehört zu den 8,5 Millionen Deutschen, die täglich länger als eine Stunde zur Arbeit unterwegs sind. "Manchmal frustriert mich das", sagt Kitterer, "gerade, wenn die Straßen wegen eines Unfalls blockiert sind und ich für eine Strecke zwei Stunden brauche." Kitterer und Kirchhoff - das ist eine Beziehung, von denen es immer mehr gibt. Ein Mittelständler in der Provinz und eine Führungskraft, die das kulturelle und gesellschaftliche Angebot einer Großstadt nicht missen oder ihr privates Umfeld nicht aufgeben möchte.

"Mein Arbeitgeber hat mir tolle Aufstiegsmöglichkeiten geboten", sagt Kitterer. "Außerdem muss ich nicht jeden Tag fahren, sondern kann auch flexibel von zu Hause aus arbeiten. Meine Ansprechpartner sitzen alle im Ausland, denen ist es egal, von wo aus ich mich einwähle." Dass mehr Menschen als früher dauerhaft pendeln, liegt auch daran, dass "Frauen heute besser ausgebildet sind und sich einen adäquaten Job wünschen", sagt Anette Haas vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.

"Ich kann in der Bahn gut weiterarbeiten"

Katrin Feja ist so jemand. Die 45-Jährige wohnt in Schwerin und pendelt mehrmals in der Woche nach Hamburg zu ihrem Arbeitgeber Telefónica Deutschland, für die einfache Strecke braucht sie zwei Stunden. 13 Jahre macht sie das nun schon - ganz freiwillig und meistens gut gelaunt. "Sicher gibt es Tage, an denen ich es nicht so gerne tue", sagt die Marketingmanagerin. Doch Vertrauensarbeitszeit und Home-Office sind bei ihrem Arbeitgeber Standard. Außerdem ist es für sie von Vorteil, dass die Kollegen über Deutschland hinweg verstreut arbeiten. So kann sie ohne schlechtes Gewissen zu Hause am Schreibtisch sitzen. "Zwei Tage arbeite ich vom heimischen Büro aus, an den anderen Tagen muss ich nicht automatisch um neun Uhr da sein." Das Wichtigste aber: Die Arbeit macht Feja viel Spaß. "In Schwerin bekomme ich keinen vergleichbar tollen Job."

Da können ihr auch die netten Damen und Herren vom Regionalmarketing Mecklenburg-Schwerin nicht helfen, die einmal im Jahr auf dem Bahnhof in Schwerin stehen und darauf hinweisen, wie viele Unternehmen in der Region sitzen - und händeringend gute Leute suchen. "Hinzu kommt, dass ich in der Bahn gut weiterarbeiten kann, wenn es nötig ist", sagt Feja. Selbst Bahnstreiks können sie nicht aus der Ruhe bringen, wie alle Telefónica-Mitarbeiter hat sie einen mobilen Rechner, mit dem sie sich überall auf der Welt einloggen kann und Zugriff auf alle Daten hat.

Nur fünf Prozent nimmt lange Arbeitswege in Kauf

60 Minuten und mehr brauchen nur gut fünf Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland für den einfachen Weg zur Arbeit. Fast ein Viertel benötigt zwischen 30 und 60 Minuten.

Der Rest ist schneller am Ziel. Laut Mikrozensus legen 17 Prozent aller Erwerbstätigen einen mehr als 25 Kilometer langen einfachen Weg zur Arbeit zurück, bei vier Prozent sind es mindestens 50 Kilometer. Etwa ebenso viele müssen eine Distanz von mindestens zehn Kilometern zwischen Wohnung und Arbeitsplatz überbrücken.

Angelika Meyer fuhr manchmal 300 Kilometer - bis sie zusammenbrach

Ist das Pendeln also eine Nebenwirkung der mobilen Gesellschaft, die man in Kauf nehmen sollte? Sind Arbeitswege von mehr als 50 Kilometern eine harmlose Sache? Angelika Meyer, 48, hat eine andere Sichtweise auf die Dinge. Sie arbeitete fünf Jahre als Versicherungsmanagerin, fuhr jeden Tag Zweigstellen ab, die Kilometer summierten sich an manchen Tagen auf 300 - bis sie zusammenbrach.

Es ist das Herz. Sie kommt in die Notaufnahme und verbringt anschließend mehrere Wochen in einer psychosomatischen Klinik. Dort lernt sie: Die Ursache ihres Leidens ist chronischer Stress. Die Anzeichen waren eigentlich deutlich zu spüren: Sie hatte zu nichts mehr Lust, verzichtete weitgehend auf körperliche Bewegung. Gegessen wurde im Stehen, kurz zwischendurch, meistens Fast Food.

Viele Pendler leiden unter Stresssymptomen

Mittlerweile ist Meyer zu ihrem Arbeitgeber zurückgekehrt, doch sie ist im Innendienst beschäftigt, das Büro verlässt sie nur in der Mittagspause oder für den Heimweg. Die Scham über das Erlebte ist groß: Angelika Meyer möchte nicht mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung stehen.

Arbeitsbiografien und Krankheitsverläufe wie der von Meyer sind häufig. Nach einer Umfrage der AOK in Stuttgart fühlt sich jeder Fünfte durch einen langen Arbeitsweg in seiner Freizeit eingeschränkt. Auch Freunde und Familie bleiben auf der Strecke, beklagen zehn Prozent der Befragten. Das gilt vor allem für Erwerbstätige mit Kindern. Viele litten unter Stresssymptomen wie Nervosität, Herzrasen oder Schweißausbrüchen.

Rolf Konrad ficht das nicht an. Er taugt als Inbegriff des typischen deutschen Pendlers. Männlich, mittleres Alter, Vollzeit arbeitend, gut qualifiziert und ordentlich verdienend. Der 46-Jährige ist Leiter Allgemeiner Einkauf beim Mittelständler Trilux im sauerländischen Arnsberg. 110 Kilometer hat er jeden Morgen aus dem rheinischem Langenfeld nach Arnsberg zu überbrücken.

"Sicher geht dabei Lebenszeit drauf, aber wenn man heimatverbundener Rheinländer ist, dann zieht man nicht ins Sauerland", sagt Konrad. Anders als Lisa Kitterer oder Katrin Feja kann er nicht von zu Hause aus arbeiten. In seinem Job braucht er den persönlichen Kontakt zu den Kollegen. An Konrad lernt man: Pendeln ist eine Typsache. Der eine kommt damit zurecht, der andere nicht. Für ihn ist das Glas halb voll, nicht halb leer. "Wenn ich zu Hause bin, dann ist die Arbeit auch gedanklich erledigt."

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