Weltgesundheitsorganisation:Exzessives Spielen wird zur Krankheit erklärt

Computerspieler beim NRW-Games-Gipfel

Computerspieler beim NRW-Games-Gipfel: Wer exzessiv an den Geräten sitzt, kann künftig leichter Hilfe bekommen.

(Foto: Oliver Berg/dpa)

Die WHO erkennt die Computerspielsucht als eigenständige Diagnose an. Welche Kriterien gelten für die Störung und was bedeutet der Schritt für Deutschland? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Berit Uhlmann

Wenn die Weltgesundheitsorganisation WHO an diesem Montag ihren neuen Krankheitskatalog vorstellt, bedeutet dies auch die Aufwertung einer umstrittenen Diagnose: "Gaming Disorder" wird im sogenannten ICD-11-Katalog erstmals als eigene Störung anerkannt. Wie kam es dazu, und was folgt daraus?

Wie ist die Spielsucht charakterisiert?

Die neue Diagnose bezieht sich auf Internet- und Videospiele - unabhängig davon, ob ihre Fans online oder offline sind. Die Diagnosekriterien sind erfüllt, wenn Menschen die Kontrolle über ihr Spielverhalten verlieren, andere Tätigkeiten zugunsten der Games vernachlässigen und selbst dann noch in den virtuellen Welten verharren, wenn in der realen Umgebung bereits Probleme auftauchen und Beziehungen, Arbeit oder Ausbildung leiden. Die Diagnose soll in der Regel erst gestellt werden, wenn die Betroffenen mindestens zwölf Monate lang immer wieder ungebremst daddeln. Unabhängig von dieser Störung führt das WHO-Handbuch weiterhin die Diagnose Glücksspielsucht auf.

Warum geht es nur um Spiele?

Tatsächlich begannen die WHO-Experten ihre Beratungen mit einem breiteren Ansatz und debattierten zunächst über die "exzessive Nutzung des Internets". Wie Wissenschaftler im Fachjournal Journal of Behavioral Addictions dokumentieren, einigten sich die Fachleute jedoch bald darauf, dass die größte Gefahr von elektronischen Games, vor allem von Schieß- und Online-Rollenspielen ausgehe. Sie sahen das Suchtpotenzial eher im Inhalt und Aufbau dieser Spiele als im Medium Internet und verwarfen die pauschale Diagnose Onlinesucht. Ob andere Arten der Internetnutzung - etwa Social-Media-Aktivitäten oder der Konsum von Pornografie - ebenfalls abhängig machen können, ist nicht ausreichend erforscht.

Ist die Entscheidung in der Fachwelt anerkannt?

Gegen die Diagnose protestiert nicht nur die Gaming-Industrie, sondern auch eine Reihe Forscher. So kritisierten 30 Wissenschaftler öffentlich, dass die Neuregelung auf wackeliger wissenschaftlicher Basis stehe, Millionen gesunder Videospieler stigmatisieren und Eltern in unnötige Panik versetzen könnte. Andere Fachleute warfen dagegen den Kritikern vor, das Leid der abhängigen Spieler zu trivialisieren. Dass viele Menschen keine Probleme mit Spielen hätten, sei kein Argument dafür, die Sucht anderer nicht anzuerkennen. In Deutschland spricht sich die Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) schon länger dafür aus, Verhaltenssüchte, die mit der Internetnutzung zusammenhängen, stärker zu beachten.

Wie viele Menschen sind betroffen?

Schätzungen gehen davon aus, dass in Asien etwa zehn bis 15 Prozent und in Europa bis zu fünf Prozent der jüngeren Menschen pathologisch spielen. Die DGPPN schätzt, dass in Deutschland etwa ein bis zwei Prozent der Jugendlichen betroffen sind.

Welche Folgen hat die Spielsucht ?

Ärzte beobachten unter anderem Schlafmangel, Dehydrierung, Fehlernährung, Reizbarkeit, depressive Verstimmungen sowie soziale und familiäre Probleme. Selbst Todesfälle wurden in Zusammenhang mit unablässigem Spielen gebracht. Der erste Fall wurde 2004 in Südkorea dokumentiert, als ein 24-Jähriger in einem Internetcafé zusammenbrach. Er hatte vier Tage lang fast ununterbrochen gespielt, bis ein Blutgerinnsel ein Gefäß in seiner Lunge verstopfte.

Wie wird die Spielsucht behandelt?

Bereits jetzt bieten Ambulanzen und Kliniken gezielte Therapien für Spielsüchtige an. In der Regel werden Verhaltenstherapien eingesetzt, sagt Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz Spielsucht an der Psychosomatischen Klinik der Universität Mainz. Noch gibt es keinen Konsens darüber, ob die Behandlung auf komplette Abstinenz abzielen soll oder ob es ausreicht, das Spielen auf ein akzeptables Maß zu reduzieren. Eine Leitlinie ist in Arbeit.

Was bedeutet die Aufnahme in den Krankheitskatalog?

Künftig können Ärzte und Psychologen in Deutschland die Behandlung von Spielsüchtigen leichter abrechnen und finanziert bekommen. Bislang müssen sie Ersatzdiagnosen anführen. Es könne allerdings noch etwa fünf Jahre dauern, bis die Diagnose tatsächlich in der klinischen Praxis in Deutschland ankommt, sagt Wolfgang Gaebel vom LVR-Klinikum Düsseldorf und Vertreter der DGPPN in den ICD-Beratungsgremien.

Was genau ist die ICD-11?

Die elfte Auflage der "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems" beschreibt Tausende Verletzungen und Krankheiten aus allen medizinischen Fachrichtungen. Die WHO-Mitgliedsländer orientieren sich an dieser Auflistung. Die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft gibt allerdings ein eigenes Diagnosehandbuch heraus. Darin ist die Computerspielsucht vorerst nicht als eigenständige Störung anerkannt.

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