Medizin:Erzwungene Qual am Ende des Lebens

Viele Ärzte wollen ihren Patienten bis zum Schluss helfen. Doch am Ende eines Lebens ist Nichtstun manchmal besser.

Von Werner Bartens

Für den Berliner Krebsmediziner Wolf-Dieter Ludwig kommt es einem Kunstfehler gleich: Erhalten Patienten mit einem weit fortgeschrittenen Tumor in den letzten vier Wochen vor ihrem Tod noch eine Chemotherapie, mag das von den Ärzten zwar gut gemeint sein - die Patienten haben aber nichts mehr davon, außer zusätzlichen Nebenwirkungen. Für den Psycho-Onkologen Herbert Kappauf aus Starnberg verringert ein derartiger ärztlicher Aktivismus die Chance der Patienten, auch angesichts des nahen Todes noch "möglichst lange möglichst gut zu leben".

Leider ist es in Krankenhäusern dennoch weit verbreitet, Patienten in ihrer letzten Lebensphase noch erhebliche medizinische Interventionen zuzumuten. Das Problem ist seit mehr als 20 Jahren bekannt. Australische Gesundheitswissenschaftler zeigen im International Journal for Quality in Health Care vom heutigen Dienstag, in welchem Ausmaß Schwerkranke unter unnötiger Medizin zu leiden haben. Die Ärzte um Magnolia Cardona-Morrell von der University of New South Wales in Sydney haben Daten von mehr als 1,2 Millionen Patienten aus zehn Ländern analysiert und dabei festgestellt, dass im Mittel 33 bis 38 Prozent der Schwerkranken Eingriffe und Behandlungen zu ertragen hatten, die ihnen keine Vorteile brachten.

Ein Drittel der Patienten bekam in den letzten sechs Wochen ihres Lebens noch eine Chemotherapie

"Angehörige können oft nicht akzeptieren, dass ihre Liebsten sterben müssen und sie fordern von den Ärzten, weiterhin alles zu versuchen", sagt Cardona-Morrell. "Ärzte können natürlich nie genau vorhersagen, wie lange jemand zu leben hat. Sie stehen vor dem Dilemma, Leben retten zu wollen aber auch die Patienten in Würde sterben zu lassen." In der Praxis führt dies dazu, dass Todkranke noch behandelt, untersucht und in Röhren geschoben werden, obwohl es längst nicht mehr sinnvoll ist.

So wurden laut der aktuellen Analyse an bis zu 50 Prozent der Patienten Bluttests vorgenommen, CT, Kernspin oder Röntgenbilder angefertigt, obwohl die Kranken oder ihre Angehörigen erklärt hatten, dass keine Wiederbelebungsversuche mehr gewünscht sind. Ein Drittel der Patienten erhielt in der letzten Lebensphase Antibiotika, Herzmittel oder andere Medikamente. Ebenfalls ein Drittel bekam in den letzten sechs Wochen des Lebens noch eine Chemotherapie.

"Viele Ärzte befinden sich offenbar in einem Konflikt"

Auch der technische Aufwand war trotz des absehbaren Endes enorm: 30 Prozent der Patienten kamen noch an die Dialyse, wurden bestrahlt oder erhielten in den letzten Lebenstagen eine Bluttransfusion. 25 Prozent wurden reanimiert, obwohl sie sich dagegen ausgesprochen hatten, zehn Prozent kamen gar auf die Intensivstation. "Offenbar befinden sich viele Ärzte im Konflikt zwischen dem, was nötig und angemessen ist, und der erlernten medizinischen Haltung, alles zu versuchen, was möglich ist", sagt Cardona-Morrell.

Seit Langem fordern kritische Ärzte, zum Lebensende nicht das gesamte medizinische Repertoire aufzubieten. Nicht, um an den Patienten zu sparen, sondern um ihnen unnötiges Leid zu ersparen. Die Verdrängung des Todes durch Ärzte wie Patienten sowie das als Kränkung empfundene Eingeständnis, einen Patienten nicht mehr heilen zu können, führen oftmals dazu, dass der Aktivismus über die Vernunft siegt und weiter therapiert wird - bis zum letzten Stündlein. "Weil die genaue Prognose unmöglich ist und der Druck der Angehörigen wie auch das ärztliche Selbstverständnis zum Handeln verleiten, werden sich unnötige Behandlungen am Lebensende nie ganz vermeiden lassen", sagt Magnolia Cardona-Morrell. "In einem derartigen Ausmaß muss das aber nicht akzeptiert werden."

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