Kindergesundheit:Skalpell statt Tablette

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Ob Kinder operiert werden oder nicht, hängt auch davon ab, wo sie wohnen. Experten sehen diese regionalen Unterschiede kritisch.

Von Guido Bohsem, Berlin

Wem als Kind die Mandeln entfernt wurden, wird sich daran mit großer Wahrscheinlichkeit erinnern können. Nach der Operation hat man grässliche Halsschmerzen. In den 70er-Jahren erreichte die Zahl der Eingriffe ihren absoluten Höhepunkt. Inzwischen greifen die Ärzte bei entzündeten Mandeln nicht mehr so oft zum Skalpell. Die Mandeln werden seltener vollständig herausoperiert. Stattdessen entfernt man sie häufiger nur teilweise. Insgesamt jedoch sinkt die Zahl der Mandel-OPs, weil viele Ärzte inzwischen darauf setzen, die Entzündungen mit Antibiotikum zu behandeln.

Ob man als Kind oder Jugendlicher heutzutage an den Mandeln operiert wird, hängt längst nicht nur davon ab, wie oft es in den vergangenen zwölf Monaten zu Entzündungen kam und wie gravierend sie waren. Laut einer Untersuchung des wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) spielt der Wohnort dabei eine wesentliche Rolle. So wurden 2012 im Bundesdurchschnitt 37 von 10 000 Einwohnern an den Mandeln operiert. In der Region Ingolstadt kam es jedoch im gleichen Zeitraum zu deutlich weniger Eingriffen. Dort landeten von 10 000 Einwohnern lediglich 17 auf den Operationstisch, obwohl nichts dafür spricht, dass die Menschen dort deutlich weniger an Halsentzündungen leiden.

Genauso wenig wie etwas dafür spricht, dass die Leute in Magdeburg besonders anfällig sind für Mandelentzündungen - und dennoch liegt die Zahl der Mandel-OPs dort viermal höher als in Ingolstadt. Es sind 66 auf 10 000 Einwohner.

Die Forscher sind sich einig, dass regionale Unterschiede schlecht sind

Ebenfalls häufiger operiert wird in Bremen (42), Sachsen-Anhalt (40) und Niedersachsen (39). In Hamburg sind es 28 Operationen auf 10 000 Einwohner, in Bayern 27 und in Berlin 24.

So oft diese Ungleichheit schon festgestellt worden ist, so wenig ist über die genauen Ursachen bekannt. Der Geschäftsführer des Wido-Instituts, Jürgen Klauber, sprach von einer Vielzahl von Erklärungsansätzen. So könne es sein, dass ein Teil der Eingriffe durch die Eltern veranlasst würde, die nach mehreren langwierigen Erkrankungen ihrer Kinder darauf drängten, dem Problem ein Ende zu setzen. Möglich sei aber auch, dass es in den Regionen eine Denkschule unter den Medizinern gebe, die Operationen für die bessere Behandlung halte. Bei älteren Jugendlichen führe womöglich auch die Angst vor längeren Ausfällen in der Arbeit zur Entscheidung für eine OP.

Klar ist aber auch, dass in der Forschung Einigkeit darüber herrscht, dass solche regionalen Unterschiede schlecht sind, weil sie zeigen, dass eine optimale Behandlung der Patienten nicht die Regel ist. Aus diesem Grund gibt es in Deutschland seit diesem Herbst auch eine Leitlinie, was die Entfernung von Mandeln betrifft. Darin wird erst dann zu einer Operation geraten, wenn innerhalb des vergangenen Jahres mindestens sieben Entzündungen aufgetreten sind. Das Fieber sollte dabei jeweils über 38,3 Grad gelegen haben.

Nach Klaubers Worten sei es noch zu früh, um über die Auswirkung der Leitlinie zu urteilen. Sie müsse erst in das Bewusstsein der Ärzte eindringen. Wünschenswert sei eine solche Leitlinie aber auch in anderen Fällen, wie zum Beispiel bei der Operation des Blinddarms. Denn auch hier gibt es regional große Unterschiede. Der Durchschnitt liegt bei 27,1 Eingriffen auf je 10 000 Kinder unter 18 Jahren. In Schleswig-Holstein Ost werden nur 13 operiert - in Ingolstadt 52.

© SZ vom 03.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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