Wikipedia-Weltkonferenz 2010:Woodstock im Schatten der Zensur

Die "Wikimania" ist das Woodstock der Wikipedianer, statt freier Liebe geht es ihnen um freies Wissen. Hier diskutiert die Wiki-Bewegung, wie sie die Zensur repressiver Regierungen überwinden kann.

Mathias Hamann, Gdansk

"Macht doch mal die Laptops aus," schallt es von den oberen Rängen. Und schwupp verschwinden die letzten drei trüben Lichter. Etwa 300 Leute sitzen in der Philharmonie in Gdansk (Danzig), einige fächeln sich Luft zu, andere warten still auf eine Weltpremiere.

Wikimania 2010 Danzig

Jedes Jahr treffen sich Hunderte Wikipedianer zur "Wikimania", um in großen oder kleinen Gruppen die Zukunft des Online-Lexikons zu diskutieren.

(Foto: Ragesoss, Wikimedia, CC Att. SA)

Die beginnt mit einer wunderbaren Szene: "Das Alter stimmt nicht," beschwert sich ein Inder. "Dann ändere es," lächelt Jimmy Wales und zeigt auf den Edit-Button. Truth in Numbers heißt der Dokumentarfilm, der am Wochenende in Danzig Premiere feierte.

In der polnischen Hafenstadt gründete sich vor 30 Jahren die Solidarność um Lech Walesa, die erste unabhängige Gewerkschaft im Ostblock trug entscheidend zum Zusammenbruch der sozialistischen Staaten Osteuropas bei. Daher sieht sich Danzig auch als Stadt der Freiheit.

Freies Wissen rund um den Globus

Freies Wissen in der Stadt der Freiheit lautet der Slogan der "Wikimania 2010", dem jährlichen Woodstock der Fans des Online-Lexikons Wikipedia. Ihnen geht es nicht um freie Liebe sondern um freies Wissen, das sie rund um den Globus verbreiten möchten.

Die meisten Teilnehmer sind männlich, zwischen Mitte zwanzig und Mitte vierzig, Studenten oder Angestellte an Universitäten. Skandale um Seriosität, Fragen nach Seriosität, Relevanz, all das hat der Wikipedia nicht geschadet, im Gegenteil, es hat sie bekannter gemacht und besser.

Die Internet-Enzyklopädie ist in vielen Ländern unter den Top Ten der meistbesuchten Webseiten. "Weil sie in vielen Ländern die beste Quelle für Wissen ist," erklärt Wikipedia-Gründer Jimmy Wales. In vielen Ländern gibt es kein Lexikon wie den Brockhaus, und wenn, ist es für die meisten unbezahlbar. Daher sei Wikipedia die günstigste, einfachste und auch aktuellste Wissensquelle.

Wikipedia soll an den Rändern wachsen

Von aktuell 350 Millionen auf 680 Millionen soll die Nutzerschar wachsen, besonders bei den kleinen Sprachen. Was er damit meint, zeigt der Lexikon-Papa mit ein paar Zahlen: Auf Tamil gäbe es nur 23.000, auf Bengali nur 21.000 Artikel, dabei würde Tamil von 66 Millionen und Bengali gar von 230 Millionen Menschen gesprochen.

Zum Vergleich: Die dänische Wikipedia enthält rund 131.000 Beiträge bei nur 5,6 Millionen Sprachkundigen.

Um die Wikipedia auch jenseits der Industrienationen populärer zu machen, benötigt es harte Lobbyarbeit. So wird Jimmy Wales auch schon einmal bei Bill Gates vorstellig, damit Windows endlich Tamil unterstützt. Zudem will die Wikimedia-Foundation neue Büros eröffnen, 2011 in Indien, danach in Brasilien, Nordafrika und dem Nahen Osten.

Was die Wikipedianer gegen Zensur unternehmen

Darum kümmert sich Barry Newstead. Der Beauftrage für die internationale Entwicklung steht an einem Tisch, um ihn herum zwei Studenten und ein Schüler aus dem arabischen Sprachraum. Sie wollen die arabische Version des Mitmachlexikons vergrößern.

Wikimania 2010 Danzig

Gruppe von Wikipedianern in Danzig: Freier Zugang zur Online-Enzyklopädie ist keine Selbverständlichkeit.

(Foto: Ra Boe/Wikimedia Commons, CC SA 3.0)

Laut den Vereinten Nationen ist Arabisch auf Rang sechs der häufigst gesprochenen Sprachen, gleichwohl stammt liegt nur ein Prozent der Artikel in arabischer Sprache vor. Der Grund ist überraschend simpel, erklärt der Wikipedianer Mohammed Mohammed: "Viele kennen den Edit-Button nicht. Bei mir war das auch so."

Der Student aus Kairo hat gerade seinen Master in Informatik erhalten und arbeitet erst seit diesem Jahr an Wikipedia mit. Noda Al Bunni aus Syrien kämpft mit anderen Problemen: Blockade. "Der Wunsch nach Blockade muss gar nicht von der Regierung kommen," sagt sie. "Es gibt auch andere Gruppen, die zum Beispiel stört, dass Bilder vom Propheten Mohammed gezeigt werden."

Die Macht des Edit-Buttons

Ihr Rezept dagegen: Der Edit-Button. "Wenn die Menschen wissen, dass sie falsche Informationen ändern können, dann wächst die Akzeptanz", sagt Noda Al Bunni. Mohammed Mohammed aus Kairo kennt keine Blockade-Probleme, selbst Artikel und Bilder über Genitalien oder die Bilder über den Propheten seien von Ägypten aus erreichbar.

Ganz anders sieht es jedoch in Saudi-Arabien oder Iran aus, dort herrscht Zensur. Daher wollen sich Teilnehmer aus diesen Ländern auch nicht in Presseartikeln wiederfinden. Sie sind hier, um neue Leute kennenzulernen und Ideen zu sammeln.

Zum Beispiel von Jeromy-Yo Chang. Der Chinese aus Hongkong kennt eines der besten Mittel gegen Zensur: "Reden." So habe China die Blockade 2008 gelockert, "weil Jimmy Wales mit der Regierung gesprochen hat."

Der Ober-Wikipedianer habe klargemacht, dass das Online-Lexikon viel Wissen zu Technik, Biologie oder Chemie enthält und sich so als Werkzeug zum Lernen eignet. Außerdem hätten doch auch chinesische Autoren die Möglichkeit zum neutralen Standpunkt bei Lexikon-Artikeln beizutragen, indem sie die Sicht Chinas einfließen lassen.

China: Ein bisschen Öffnung

Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 öffnete China den Zugang zu vielen Wikipedia-Seiten. "Das liegt an den Gesprächen, aber auch daran, dass sich die Zensur-Möglichkeiten verfeinert haben," sagt Jeromy-Yo Chang. Die staatseigene Filter-Architektur ermöglicht den Behörden in Peking, Inhalte wie Informationen zum Dalai Lama auszusortieren.

Von einer offenen Wikipedia, wie wir sie kennen, können jedoch viele Konferenzteilnehmer nur träumen. Und für die arabischen Teilnehmer zeigt sich schon bei der "Wikimania 2011", dass ihr Einsatz nicht nur im virtuellen Raum beschränkt ist: Obwohl das Wiki-Woodstock nächstes Jahr in Haifa und damit in der direkten Nachbarschaft stattfindet, können viele von ihnen die Konferenz nur aus der Ferne verfolgen - ihre Regierungen verbieten ihren Bürgern die Reise nach Israel.

Wenn es doch nur für alle Probleme einen Edit-Button gäbe.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: