Internetversand in der Vorweihnachtszeit:Zwischen Windeln, Glasreiniger und "Bravo Hits"

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Viele schimpfen auf Amazon, sei es wegen der Steuerpolitik, sei es wegen der vermeintlichen Ausbeutung der Mitarbeiter. Und doch bestellen Millionen Kunden beim weltgrößten Online-Händler. Mit ausgefeilter Logistik klappt das System auch kurz vor Weihnachten. Ein Besuch.

Von Mirjam Hauck, Graben

Die Innenstädte locken mit Glühweinbuden, glitzernden Teddybären im Schaufenster und verstopften Rolltreppen. Wer darauf wenig Lust hat, bestellt Weihnachtsgeschenke im Netz. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Deloitte kaufen mittlerweile 46 Prozent der Bundesbürger im Internet. Der Handelsverband Deutschland prognostiziert für die Monate November und Dezember dem Online-Handel ein Plus von 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die gesamte Handelsbranche wächst hingegen gerade einmal um magere 1,2 Prozent.

Für diesen Boom mitverantwortlich ist Amazon. Der einstige Online-Buchhändler verkauft mittlerweile alles: Hundejacken, Männeruhren, Kokosöl und auch Bücher, DVDs und allerlei Technik-Gadgets. 224 Millionen Kundenkonten zählt der Gigant.

Neun Logistikzentren

In Deutschland können sie aus etwa einer Million verschiedener Produkte auswählen, die der Konzern auf Lager hat - in jedem seiner neun Logistikzentren in Deutschland. Das sind riesige Hallen mit meterhohen Regalen, Palettenstapeln, Kartons und meterlangen Förderbändern, an denen die Mitarbeiter stehen und die bestellte Ware verpacken. Ungefähr zwei Millionen Lieferanten sorgen dafür, dass der Nachschub nicht versiegt.

Wenn die Ware in mannshohen Kartons angeliefert wird, schauen Arbeiter erst einmal, ob es sich um sogenannten Volumenware handelt. Das sind Massenartikel, die sofort verkauft werden und für die es sich nicht lohnt, sie in Regale einzusortieren. Und so stehen in der Halle Paletten mit Windeln neben Kartons mit der neuen AC/DC-CD. Die Bravo-Hits 87 lagern neben Sprühflaschen mit Glasreinigern und Vollwaschmittel im Pappkarton. Dazwischen Hunderte Kisten mit bunten Legosteinen, nebendran Hunderte Fritzboxen.

Der Picker scannt die Ware

Morgens um 6.45 Uhr beginnt die Schicht der Leute, die das alles zusammenklauben, in der Logistik-Fachsprache heißt das "picken". Die Arbeiter legen die Waren in gelbe Kisten und bringen sie zu den Plätzen, an denen die Artikel weiter sortiert und verpackt werden. War früher ein "Picker" für die gesamte Bestellung zuständig, bringt jetzt jeder von ihnen nur ein Teil pro Bestellung zu den Sortierplätzen. Damit soll die Arbeitsbelastung reduziert werden. Bevor dieses System eingeführt wurde, musste der Picker an einem Ende des Lagers das Buch, am anderen Ende die Staubsaugerbeutel holen.

Jeder der Arbeiter hat einen kleinen Scanner in der Hand. Der sagt ihm, welches Teil für die Bestellung gebraucht wird und in welchem Regal und in welchem Fach er es findet. Hat er das Produkt anhand eines Codes aus Nummern und Zahlen entdeckt, muss er es aus dem Regal holen und den aufgeklebten Barcode scannen. Dann bekommt er mitgeteilt, zu welchem Sortierplatz er es bringen soll. Vorgaben, wie viele Produkte ein Mitarbeiter in einer bestimmten Zeit "picken" muss, gibt es nicht. Dennoch scheint die Arbeitsbelastung hoch zu sein. Der Krankenstand liegt laut Verdi bei stattlichen 20 Prozent.

Regal reiht sich an Regal. (Foto: Michaela Rehle/Reuters)

Die meisten Amazon-Mitarbeiter sind ungelernte Kräfte oder haben vor ihrem jetzigen Job in einer anderen Branche gearbeitet. In wenigen Tagen werden sie von Vorgesetzten angelernt. Dann müssen sie das Scan-System beherrschen und sich in den riesigen Lagern auskennen.

1800 festangestellte Mitarbeiter arbeiten in Graben bei Augsburg, in der Vorweihnachtszeit sind es nach Angaben von Amazon inklusive der Saisonkräfte doppelt so viele.

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Stundenlohn von 10,62 Euro

Derzeit wird in dem Betrieb gestreikt, in den vergangenen Tagen haben die Mitarbeiter in mehreren Logistikzentren ihre Arbeit niedergelegt. In dem seit 2013 laufenden Konflikt will Verdi erzwingen, dass Amazon seinen rund 10 000 Mitarbeitern in Deutschland künftig den Einzelhandelstarif statt des niedrigeren Logistiktarifs zahlt. Amazon lehnt das strikt ab. Der US-Konzern sieht sich selbst als Logistiker. Der geringe Stundenlohn ist nur ein Kritikpunkt, dem sich Amazon ausgesetzt sieht. Was die Kunden auch erbost, sind die Versuche des Konzerns, mittels Gewinnverschiebung möglichst wenig Steuern zu zahlen. Das hält aber dennoch viele nicht davon ab, beim größten Online-Händler der Welt zu bestellen. Amazon hat im vergangenen Jahr allein in Deutschland mehr als sieben Milliarden Euro Umsatz gemacht.

Die Mitarbeiter in Graben bekommen einen Stundenlohn von 10,62 Euro. Nirgendwo sonst in Deutschland bei Amazon gibt es mehr. An anderen Standorten sind es teilweise unter zehn Euro. Laut Verdi befinden sich in Graben bis zum 24. Dezember noch 450 Amazon-Mitarbeiter im Ausstand, das ist rund ein Viertel der festen Tagesbesetzung.

Um 15.05 Uhr kann die erste Schicht nach Hause gehen, dann übernimmt bis 23.25 Uhr die Spätschicht. Gearbeitet wird bis zum 24. Dezember mittags.

Anschließend haben die Mitarbeiter im Lager erst einmal zweieinhalb Tage Ruhe. Über die Feiertage wird nicht gepickt, verpackt und versendet. Windeln, Bücher und CDs bleiben in ihren Schachteln. Doch ab dem 27. Dezember geht es wieder von vorne los. Bereits am Weihnachstabend beginnt die nächste Bestellwelle. Wenn die Geschenkgutscheine eingelöst werden.

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