Internet und Hirnforschung:Digital macht nicht dümmer

Der Einfluss der neuen Medien ist wohl begrenzter, als die Ängste davor vermuten lassen. Statt über aktuelle Technologien zu jammern, sollten wir Strategien zur Selbstkontrolle entwickeln.

Steven Pinker

Seit jeher versetzen neue Medienformen die Menschen in panische Angst vor einem Sittenverfall: Ob Druckerpresse, Zeitungen, Taschenbücher oder Fernsehen - sie alle erklärte man zu Bedrohungen für die geistige Leistungskraft und die Charakterstärke ihrer Konsumenten.

Gehirn Internet Neurowissenschaften

Dass neuronale Plastizität existiert, bedeutet nicht, dass das Gehirn ein Lehmklumpen wäre, der erst durch Erfahrungen in Form geklopft würde.

(Foto: iStock)

So ergeht es auch den digitalen Technologien. PowerPoint, so heißt es, reduziere Diskurse auf bloße Stichpunkte. Suchmaschinen senkten unsere Intelligenz, indem sie uns dazu verführten, uns Wissen nur oberflächlich anzueignen, anstatt in seine Tiefen einzutauchen. Twitter lasse unsere Aufmerksamkeitsspannen zusammenschnurren.

Doch solche Ängste halten oft einfachsten Realitätstests nicht stand. Zur gleichen Zeit als in den fünfziger Jahren Comichefte beschuldigt wurden, Jugendliche zu Straftätern zu machen, fiel die Kriminalitätsrate auf Rekordtiefs.

Dummheitsdebatten bei steigendem IQ

Genauso verteufelte man in den neunziger Jahren Videospiele gerade dann, als in Amerika der historisch große Rückgang in den Verbrechenszahlen einsetzte. Die Jahrzehnte von Fernsehen, Transistorradios und Musikvideos waren auch Jahrzehnte, in denen die IQ-Werte ununterbrochen stiegen.

Für eine aktuelle Prüfung muss man nur einen Blick auf den Zustand der Naturwissenschaften werfen. Sie erfordern ein hohes Niveau an geistiger Leistung, und die Zahl neuer Entdeckungen lässt sich hier als klares Bewertungskriterium messen.

Die Wissenschaftler von heute verlassen kaum je den Bereich ihrer E-Mails, sie nehmen selten ein Blatt Papier in die Hand, und sie können keine Vorlesungen ohne PowerPoint halten.

Blüten des Geisteslebens

Würden elektronische Medien die Intelligenz gefährden, so müsste die wissenschaftliche Qualität längst ins Bodenlose stürzen. Aber neue Entdeckungen und Erfindungen entstehen mit der Geschwindigkeit von Fruchtfliegen; der Fortschritt ist atemberaubend.

Und andere Bereiche des Geisteslebens wie Philosophie, Geschichtsforschung und Kulturkritik stehen in einer ebensolchen Blüte, wie jedermann bestätigen kann, der schon einmal einen Vormittag seiner Arbeitszeit an die Website "Arts & Letters Daily" verloren hat.

Kritiker der neuen Medien greifen gelegentlich auf die Naturwissenschaft selbst zurück, um ihre Position zu untermauern. Sie zitieren dann Forschungen, die angeblich zeigen, wie "Erfahrungen das Gehirn verändern".

Unser Gehirn ist keine Lehmkugel

Aber in der kognitiven Neurowissenschaft verdreht man bei solchem Gerede nur die Augen. Es stimmt zwar, dass sich unser Gehirn jedes Mal neu verdrahtet, wenn wir uns ein Faktum oder eine Fähigkeit aneignen. Die Information wird schließlich nicht in der Bauchspeicheldrüse gespeichert.

Aber Dass neuronale Plastizität existiert, bedeutet nicht, dass das Gehirn ein Lehmklumpen wäre, der erst durch Erfahrungen in Form geklopft würde.

Der Fehler in der Neuro-Debatte

Erfahrungen ordnen die grundsätzlichen Fähigkeiten des Gehirns zur Informationsverarbeitung nicht neu. Zwar haben Speed-Reading-Programme lange für sich in Anspruch genommen, sie würden genau das schaffen.

Aber zu diesen hat bereits Woody Allen das gültige Urteil gefällt, nachdem er zuvor "Krieg und Frieden" in einem Rutsch gelesen hatte: "Es ging um Russland." Auch echtes Multitasking ist längst als Mythos entlarvt, und zwar nicht nur durch Laborstudien, sondern auch durch den vertrauten Anblick eines zwischen den Fahrbahnspuren herumschlenkernden Geländewagens, dessen Fahrer am Mobiltelefon seinen Geschäften nachgeht.

Zudem sind die Effekte von Erfahrungen höchst spezifisch auf diese Erfahrungen selbst bezogen, wie die Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons in ihrem neuen Buch "The Invisible Gorilla: And Other Ways Our Intuitions Deceive Us" zeigen.

Bildung, nicht Gehirn-Fitness

Trainiert man Menschen darauf, eine bestimmte Sache zu tun (Formen zu erkennen, Zahlenrätsel zu lösen, versteckte Wörter zu finden), dann werden sie in dieser einen Sache besser, aber in so gut wie nichts anderem.

Durch Musik wird man nicht besser in Mathematik, Lateinkonjugationen lassen einen nicht logischer denken, Spiele fürs Gehirntraining machen einen nicht klüger. Gebildete Menschen pumpen ihre Gehirne nicht mit intellektuellen Fitness- Übungen auf, sondern sie vertiefen sich in ihre Fachgebiete. Romanciers lesen viele Romane, Wissenschaftler lesen viel wissenschaftliche Literatur.

Die Effekte, die der Konsum elektronischer Medien hat, sind also wahrscheinlich begrenzter, als die Ängste vor ihnen vermuten lassen würden. Manche Medienkritiker schreiben, als würde das Gehirn die Eigenschaften von allem übernehmen, was es verarbeitet.

Man ist nicht, was man isst

Das wäre die informationelle Entsprechung zu "Man ist, was man isst". So wie manche Völker glauben, dass sie durch den Verzehr wilder Tiere selbst wild und stark werden, nehmen die Kritiker an, dass der Anblick schnell geschnittener Musikvideos das geistige Leben eines Menschen in schnelle Schnitte auflöst und dass die Lektüre von Bulletpoints und Twitter-Mitteilungen die Gedanken eines Menschen zu Bulletpoints und Twitter-Mitteilungen formt.

Nur durch Technologie werden wir klug bleiben

Zugegeben, dass einen ständig neue Informationspakete erreichen, kann ablenken oder abhängig machen, besonders bei Menschen mit Aufmerksamkeitsstörungen. Aber Ablenkung ist kein neues Phänomen.

Die Lösung liegt nicht darin, über die Technologie zu jammern, sondern Strategien der Selbstkontrolle zu entwickeln, wie wir das für jede andere Versuchung im Leben auch tun. Man schließt das E-Mail-Programm und Twitter, wenn man arbeitet, man legt das Blackberry zum Abendessen beiseite und bittet seinen Ehepartner, einen zu einer festgelegten Zeit ins Bett zu rufen.

Und wer zu intellektueller Tiefgründigkeit ermuntern will, muss dafür nicht gegen PowerPoint oder Google wettern. Es ist ja nicht so, dass Menschen sich vertiefte Reflexion, gründliche Recherche und präzise Argumentation je ganz von allein angewöhnt hätten.

Die Geisteskraft wächst nicht unendlich

Diese Dinge müssen in speziellen Institutionen erlernt werden, die wir Universitäten nennen. Und sie müssen durch ständige Übung frisch gehalten werden, durch etwas, das wir Analyse, Kritik und Debatte nennen.

Sie werden nicht schon allein dadurch gewährleistet, dass man sich ein schweres Lexikon auf den Schoß wuchtet, und sie gehen durch einen effizienten Zugang zu Informationen im Internet nicht einfach wieder verloren.

Die neuen Medien haben sich aus einem ganz bestimmten Grund durchgesetzt. Das verfügbare Wissen nimmt rasend schnell zu, die menschliche Geisteskraft und die Stunden, in denen wir wach sein können, aber nicht.

Zum Glück helfen uns Internet und Informationstechnologien dabei, unseren kollektiven intellektuellen Output zu bewältigen, ihn zu durchsuchen und dabei fündig zu werden, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen, von Twitter und Vorschaufunktionen bis zu E-Books und Online-Enzyklopädien. Diese Technologien sind weit davon entfernt, uns dumm zu machen, ganz im Gegenteil: einzig durch sie werden wir klug bleiben.

Der Autor ist Professor für Psychologie an der Harvard University und hat zahlreiche Artikel und Bücher über Neurowissenschaft, Sprache und Kognition geschrieben.

Deutsch von Niklas Hofmann

Lesen Sie hierzu Berichte in der Süddeutschen Zeitung.

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