Unterrichtsbeginn um 8 Uhr:"Das ist eine biologische Diskriminierung"

Unterrichtsbeginn um 8 Uhr: Wäre zu einer späteren Uhrzeit vermutlich aufnahmefähiger: müder Schüler.

Wäre zu einer späteren Uhrzeit vermutlich aufnahmefähiger: müder Schüler.

(Foto: Imago Stock&People)

Fast überall in Deutschland fängt die Schule um 8 Uhr an. Chronobiologe Till Roenneberg erklärt, warum der Unterrichtsbeginn flexibel geregelt sein müsste und ab welcher Uhrzeit frühestens Prüfungen geschrieben werden sollten.

Interview von Matthias Kohlmaier

SZ.de: Herr Roenneberg, was halten Sie vom Unterrichtsbeginn um 8 Uhr, der nach wie vor an fast allen Schulen Deutschlands Alltag ist?

Till Roenneberg: Für den ländlichen Ostrand Deutschlands ist die Uhrzeit in Ordnung - für den Rest nicht.

Der Experte

Der Chronobiologe Till Roenneberg ist Professor am Institut für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Das müssen Sie erklären.

Wir haben herausgefunden, dass die innere Uhr in Ost und West unterschiedlich ist. Konkret: Pro Längengrad in Richtung Westen sind die biologischen Uhren der Menschen vier Minuten später dran - das ist genau die Zeit, die die Sonne braucht, um über diesen Längengrad zu streifen. Sie werden später müde und sollten folglich auch später aufstehen können. Wenn man es rein biologisch betrachtet, können Menschen etwas früher aufstehen, je weiter im Osten sie wohnen. Und das, obwohl wir alle nach der gleichen sozialen Zeit leben.

Frühes Aufstehen ist so etwas wie ein sozialer Zwang: von wegen "Der frühe Vogel ..."

In unserer Gesellschaft zählt noch immer die Moral des Frühaufstehers - die früher durchaus ihre Berechtigung hatte. Denn als es noch kein elektrisches Licht gab und wir alle draußen gearbeitet haben, galt: Wer abends nicht einschlafen kann und morgens Probleme mit dem Aufstehen hat, der hat gesundheitliche Probleme. Heutzutage haben wir alle einen viel zu geringen Zeitgeberkontrast - das ist der Licht-Dunkelheit-Wechsel, der unserer inneren Uhr sagt, wo es lang geht.

Und draußen arbeiten auch die wenigsten von uns, Schüler schon gar nicht.

Korrekt. Tagsüber sind wir immer drinnen und bekommen um den Faktor 100 bis 1000 weniger Licht, als wir es unter freiem Himmel bekämen. Und dann machen wir uns abends auch noch viel Licht im heimischen Wohnzimmer. Das wäre eigentlich gar nicht so hell. Da wir aber gar nicht draußen waren, empfindet das Gehirn es als relativ hell.

Was folgt daraus?

Ein Beispiel: Eine Nachttischlampe stört die innere Uhr eines Landwirts überhaupt nicht, der hat ja den Großteil des Tages im natürlichen Licht bei bis zu 150 000 Lux verbracht. Dagegen jemand, der im Büro vielleicht 100 Lux abbekommt, dessen innere Uhr lässt sich von den fünf Lux der Nachttischlampe beeinflussen. Durch diese Lichtproblematik werden wir im Endeffekt immer später müde und können dementsprechend morgens nicht aufstehen. Untersuchungen zeigen, dass 85 Prozent der Deutschen einen Wecker brauchen, um einem 9-Uhr-Job nachgehen zu können.

Je älter die Schüler, desto später der Unterrichtsbeginn

Würde es helfen, früher zu Bett zu gehen?

Nein. Die innere Uhr macht hier etwas ganz Gemeines, was besonders Jugendliche betrifft, die man früh ins Bett schickt. Sie gibt dem Menschen ein Schlaffenster vor und sorgt dafür, dass man zwei bis drei Stunden, bevor dieses Fenster aufgeht, nicht gut einschlafen kann - auch wenn man sehr müde ist. Die innere Uhr fährt dann nochmal die gesamte Physiologie hoch, deshalb haben wir abends auch eine leicht erhöhte Körpertemperatur.

Welchen Einfluss hat das Alter auf das Schlaf- und Aufstehverhalten von Schülern?

Bei Kindern ist die innere Uhr früh dran, sie sind also im Durchschnitt frühmorgens wach. Mit den Jahren wird die innere Uhr dann immer später - bei Frauen bis zum Alter von etwa 19,5, bei Männern bis zum Alter von etwa 21 Jahren. Für Kinder ist der Schulbeginn um 8 Uhr also noch nicht so schlimm. Kritisch wird es ab etwa 14 Jahren. 19-jährige müssen teils während ihrer inneren Mitternacht am Unterricht teilnehmen. Wenn sie ausschlafen dürften, wären sie deutlich zugänglicher und aufnahmefähiger.

Das müsste einen spürbaren Einfluss auf in den ersten Schulstunden geschriebene Klassenarbeiten haben.

Den hat es auch. Man kann nachweisen, dass Prüfungsnoten vom Chronotypus abhängen - also davon, ob der Schüler Früh- oder Spätschläfer ist. Das liegt sowohl am falschen Zeitpunkt des Lernens als auch an zu früh festgesetzten Prüfungen. Der Schulbeginn um 8 Uhr stellt eine echte biologische Diskriminierung dar. Überspitzt gesagt entscheidet sich dadurch, ob jemand nach dem Abitur Medizin studieren kann oder nicht.

Wie ließe sich das Problem lösen?

Langfristig müsste man das ganze System ändern und den Schulzeitbeginn zumindest für ältere Schüler nach hinten verlagern. Da das aber kompliziert ist und auch noch eine Weile dauern wird, gäbe es auch kurzfristige Verbesserungsmöglichkeiten. Man könnte zum Beispiel dafür sorgen, dass Schüler ab 16 Jahren keine Prüfungen mehr vor 11 Uhr schreiben müssen. Noch besser wäre es, diese Regel auf die gesamte Schulzeit anzuwenden. Denn Frühtypen sind um elf Uhr gewöhnlich noch leistungsfähig und Spättypen bekämen so die Chance, bessere Noten zu schreiben.

Aus biologischer Sicht: Wann sollte die Schule für die einzelnen Altersgruppen idealerweise anfangen?

In der Unterstufe um 8, in der Mittelstufe um 9 und in der Oberstufe um 10 Uhr. Bevor das aber durchgesetzt wird, sollten Schulen und Lehrer dafür sorgen, dass alles, was draußen gemacht werden kann, auch draußen gemacht wird. Denn unsere Großeltern haben zwar gesagt, dass frische Luft müde macht. Aber heute weiß man: Draußen bekommt der Körper auch eine Menge Licht und kann dadurch im Endeffekt früher müde werden.

Gibt es weitere Faktoren, die beim Schulbeginn berücksichtigt werden sollten?

In der Stadt müsste die Schule eigentlich schon bei jüngeren Kindern später beginnen. Da es für die Städter niemals richtig dunkel wird, ist ihre innere Uhr nochmal deutlich später dran als die der Landbevölkerung. Eigentlich müsste der Unterrichtsbeginn, aber vor allem auch die Prüfungszeiten, nach den Kriterien Stadt/Land, Ost/West und natürlich dem Alter der Schüler variieren.

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