Schule:Wenn Tiger mit Bären lernen

Grundschule

Erst- und Zweitklässler können beim gemeinsamen Unterricht voneinander profitieren.

(Foto: dpa)

Immer mehr Grundschullehrer unterrichten Erst- und Zweitklässler zusammen. Bringt das was?

Von Matthias Kohlmaier

Lena fällt der Umgang mit der Computermaus noch schwer. Es gelingt ihr nicht immer, die kleine Figur auf dem Bildschirm durch den Zoo zu manövrieren, ohne dabei anzuecken. "Ich weiß einen Trick", sagt Ayşe neben ihr und zeigt, wie man das Geschicklichkeitsspiel meistern kann. Lena klickt und grinst, als das Männchen am Bildschirm fröhlich über die Ziellinie läuft.

Obwohl Ayşe in die zweite und Lena in die erste Klasse geht, lernen die Mädchen in ihrer Grundschule in einem Münchner Vorort gemeinsam. Jahrgangsgemischt oder kurz JüL (Jahrgangsübergreifendes Lernen) heißt die Unterrichtsform, Klassenstufen werden dabei zusammengefasst und die Schüler gemeinsam unterrichtet. Was in Zeiten der Individualisierung nach angestaubter Pädagogik aus dem vergangenen Jahrhundert klingt, ist in Wahrheit ein Trend an deutschen Grundschulen. Allein in Bayern lernen aktuell 30 000 Schüler in etwa 1300 jahrgangsgemischten Klassen - Tendenz steigend.

Kinder lernen besser, wenn sie nicht nur mit Gleichaltrigen zu tun haben, sagt Lehrerin Nicole Sölch. Sie hat in ihrer Klasse ein Patensystem etabliert - angelehnt an die Janosch-Geschichten kümmert sich immer ein Zweitklässler-Bär um einen Erstklässler-Tiger. "Ich habe wenig Streit in der Klasse, die Helferkultur ist stark. Schließlich haben die Zweitklässler den Start ins Schülerleben vor einem Jahr selbst erlebt." In ihrem Klassenzimmer teilen sich immer ein Bär und ein Tiger eine Bank, so kann etwa Bärin Ayşe jederzeit Tigerin Lena helfen, wenn die etwas nicht versteht.

Dadurch fällt auch das weg, was Lehrerin Sölch das "Trallala der ersten Schulwochen" nennt. "Ich muss keinem Erstklässler die Toilette zeigen, das macht der zuständige Bär." Der zeigt auch, wo im Klassenzimmer was liegt und weiß Rat, wenn sein Tiger zum Beispiel Probleme mit einer Rechenaufgabe hat. So lernen die Zweitklässler, ihr Wissen klar zu formulieren, und profitieren auch von der Teamarbeit.

Das ist wichtig, denn JüL-Unterricht funktioniert etwas anders als der klassische Frontalunterricht vergangener Tage. Es gibt viele Freiarbeitsphasen, die Kinder brauchen nicht ständig auf ihrem Platz zu sitzen, sondern dürfen auf den Flur oder das Lesezimmer gegenüber ausweichen. Die Klassenzimmertür ist bei Nicole Sölch darum fast immer offen, sie sieht sich als "Lernbegleiterin". Diese Umstellung falle vielen Kollegen schwer: "Wir Lehrer müssen loslassen, den Kindern vertrauen - und trotzdem immer da sein, wenn es Probleme und Fragen gibt." Natürlich gebe es aber auch komplexere Themen, die sie in kurzen Frontalunterrichtsphasen erarbeite, sonst seien die Kinder überfordert.

JüL ist kein Selbstläufer

"Jahrgangsübergreifendes Lernen - sowohl in der Schuleingangsstufe als auch in den folgenden Jahrgangsstufen - sieht die Verschiedenheit der Kinder als Chance und nutzt diese unterschiedlichen Lernausgangslagen und Lernmöglichkeiten im klar strukturierten, differenzierten Unterricht", beschreibt ein Sprecher der Kultusministerkonferenz das JüL. Es gebe Kindern Gelegenheit, "soziale Kompetenzen ebenso wie Sach- und Methodenkompetenz sowie ihre personale Kompetenz erweitern".

Ein Beispiel dafür ist die "Schlaubifrage", die jetzt in Nicole Sölchs Klasse ansteht. Dabei hält ein Zweitklässler ein kurzes Referat zu einer klar bestimmten Frage. Heute beantwortet Julian, warum der schiefe Turm von Pisa eigentlich schief ist. Dafür hat er Bilder herausgesucht und erzählt, nervös an seinem T-Shirt zupfend, was es mit dem Bauwerk auf sich hat.

Die Kurzreferate werden nur von Zweitklässlern gehalten, Feedback dürfen und sollen aber alle Schüler geben. "So können sich die Erstklässler nicht nur abschauen, wie das mit der 'Schlaubifrage' funktioniert. Sie müssen sich auch Gedanken machen, was ihr Mitschüler gut gemacht hat und wo er sich noch verbessern kann", sagt Nicole Sölch. Schöne Bilder habe er sich ausgesucht, loben die Mitschüler Julian. "Du solltest beim nächsten Mal nicht mit den Fingern an deinem Hemd herumspielen", findet Manuel, ein Erstklässler. Julian lächelt trotz der Kritik und freut sich sichtlich, dass er der Klasse etwas erzählen durfte.

In Eichenau werden Erst- und Zweitklässler gemeinsam unterrichtet, weil die Lehrkräfte überzeugt sind, dass es pädagogisch sinnvoll ist. Nicht weil sie Klassen zusammenlegen müssten. In ländlichen Schulen sieht das vielerorts anders aus. Dort steht man aufgrund geringer Anmeldezahlen vor der Wahl: Klassen zusammenlegen oder die Schule schließen. Für viele Lehrkräfte, die mit JüL erst einmal wenig anfangen können, ist das ein Problem. Denn dass altersgemischtes Lernen nicht automatisch funktioniert, zeigte sich vor einigen Jahren in Berlin. Dort schafften viele Grundschulen die Unterrichtsform wieder ab. Gerade an Schulen mit großem Migrantenanteil sei die Sprachbarriere ein Problem, das den Unterricht zu sehr verzögert habe. Eine Schulleiterin beklagte den enormen Zeit- und Kraftaufwand für die Lehrkräfte.

"Der Arbeitsaufwand ist definitiv groß", räumt auch Nicole Sölch ein, "ich muss schließlich für jeden Schultag den Stoff und die Lehrmaterialien doppelt vorbereiten - einmal für die Ansprüche der Erst- und einmal für die der Zweitklässler." Sie wolle trotzdem auf keinen Fall mehr anders unterrichten. "Die Vorteile für die Kinder rechtfertigen den Aufwand."

So groß sind die Unterschiede gar nicht

Harte Fakten dazu, ob JüL-Kinder wirklich besser, klüger, sozialer sind als ihre Altersgenossen in Regelklassen, gibt es kaum. Es spielten einfach zu viele Faktoren eine Rolle, die durch Schulleistungsstudien nicht erfasst werden können, sagt Ursula Carle. Die Professorin für Elementar- und Grundschulpädagogik an der Uni Bremen beschäftigt sich seit Jahren mit JüL. Bisherige Erhebungen legten nahe, dass sich Schüler in gemischten Klassen sozial wie auch kognitiv besser entwickelten, sagt sie. "Kinder unterschiedlichen Alters helfen sich gegenseitig und arbeiten zusammen. Dabei lernen sie viel voneinander. Voraussetzung ist eine gute Ordnung in der Klasse."

Und noch aus einem anderen Grund hält sie das jahrgangsübergreifende Lernen für sinnvoll: "Die Unterschiede bezüglich der Lernvoraussetzungen am Schulanfang können bei den Kindern bis zu drei Entwicklungsjahre betragen." Es gibt Kinder, die beim Schuleintritt bereits lesen, schreiben oder rechnen können, während die meisten das erst in der Schule lernen und dafür unterschiedlich viel Zeit benötigen. Daher bieten viele Bundesländer die Möglichkeit, die ersten beiden Schuljahre in ein bis drei Jahren zu absolvieren. Weiter entwickelte Kinder müssen sich so nicht ein halbes oder ganzen Jahr langweilen, andere bekommen ein Schuljahr länger Zeit, um den Stoff zu verstehen.

Bei den Tigern und Bären von Nicole Sölchs Klasse geht es inzwischen um den Schmetterling und den Maulwurf und darum, welche Adjektive zu beiden passen. "Die Bären kennen die Wie-Wörter schon. Aber da können die Tiger auch mitmachen", sagt Sölch. Am Ende steht eine lange Liste an der Tafel, nur Ayşe guckt etwas verwirrt. "Was heißt flott?", flüstert sie ihrem Patenkind Lena zu. "Das heißt, dass der Schmetterling ganz, ganz schnell fliegt", sagt das Mädchen.

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