Herkunft und Bildungschancen:Dumm und nichts gelernt

WIR

Bildungschancen sind in Deutschland extrem ungerecht verteilt

In Deutschland entscheidet noch immer die Herkunft über den Bildungserfolg. Kinder ohne ehrgeizige Eltern haben es schwer. Das ließe sich leicht ändern.

Essay von Catherine Hoffmann

Noch hat niemand ein Unterrichtskonzept erfunden, das in der Lage wäre, die Klassengesellschaft aus den Angeln zu heben. Aber Chancengleichheit in der Bildung, die sollte möglich sein in Deutschland. Es sollte möglich sein, dass alle Menschen entsprechend ihren Fähigkeiten gleiche Chancen haben, durch Bildung in die Mitte der Gesellschaft aufzusteigen; dass Kinder und Jugendliche mehr wissen, als sie heute wissen, dass ihre Fähigkeiten und Begabungen nicht, wie es noch viel zu oft geschieht, unentdeckt und unentwickelt bleiben; mit einem Wort, dass jeder kann, was er kann - auch Kinder, deren Eltern nicht mit Geduld und sanftem Druck für schulischen Erfolg sorgen, deren Eltern ungebildet oder arm sind oder einfach nur schlecht Deutsch sprechen.

Doch alle Reformen, Bildungsausschüsse, Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz, alle innovativen Ansätze und neuen didaktischen Designs haben dieses Ziel nicht erreicht, sie haben den langen Jammer der Schule nur verlängert. Und so gilt heute, was schon vor 30 Jahren zu beklagen war: Kinder aus sozial schwachen oder Migrantenfamilien haben es in Deutschland erheblich schwerer als in den meisten anderen Ländern. Ihnen fehlt nicht nur die Unterstützung durch die Familie, ihnen mangelt es auch in der Schule an individueller Förderung, um zum Beispiel die Sprachkenntnisse zu verbessern.

Das ist ein Armutszeugnis für Deutschland - im wahrsten Sinne des Wortes: Bildung ist der entscheidende Hebel zum wirtschaftlichen Aufstieg. Das lässt sich mit vielen Fakten belegen: Mit einem besseren Bildungsabschluss sinkt die Arbeitslosigkeit und steigt das Einkommen. Von hundert Menschen ohne Berufsabschluss sind hierzulande 20 arbeitslos, von hundert Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung dagegen nur fünf, mit Hochschulabschluss sogar nur zwei. Eine gute Bildung ist die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die in Deutschland ja vor allem eine Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten ist. Zudem verdient ein Hochschulabsolvent mehr als doppelt so viel wie jemand ohne beruflichen Ausbildungsabschluss. Und das ist bloß die individuelle Perspektive.

Darüber hinaus bleiben ohne gute Bildung für alle Potenziale ungenutzt, die Wirtschaft und Gesellschaft dringend brauchen, um den Fachkräftebedarf zu decken, die Digitalisierung und den demografischen Wandel zu meistern. Aus ökonomischer Sicht hilft Bildung, den Wohlstand zu mehren und zu größerer Gerechtigkeit beizutragen. Sie ist das wirksamste Mittel, um soziale Ungleichheit zu verringern. "Langfristig ist eine Bildungspolitik, die allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft gute Bildungschancen verspricht, die beste Sozialpolitik", sagt Ludger Wößmann, Bildungsökonom an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Obwohl es in Deutschland gleicher zugeht als in vielen anderen Ländern, gilt auch hier: Die Kluft zwischen denen, die nicht wissen, wofür sie ihr ganzes Geld ausgeben sollen, und denen, die nicht wissen, wie es bis zum Monatsende reichen soll, ist tiefer als früher. Seit den 80er-Jahren öffnete sich dieser Spalt immer weiter - bis vor gut zehn Jahren. Seither wird das Missverhältnis nicht größer, aber auch nicht kleiner. Dass der Abstand so riesig ist, liegt vor allem daran, dass sich die unteren Einkommen unterdurchschnittlich entwickelt haben, dass niedrig qualifizierte Arbeit schlechter entlohnt wird als früher.

Soziale Ungleichheit lässt sich nicht allein durch Umverteilung senken

Nun kann Politik versuchen, über Steuern und Sozialleistungen der Ungleichheit entgegenzuwirken. Sie kann die Reichen stärker besteuern und die Transferleistungen für Menschen mit geringem Einkommen erhöhen. Allerdings verteilt der deutsche Staat schon heute so viel um wie kaum ein zweiter - und doch bleibt die Kluft. "Der Versuch, soziale Ungleichheit allein durch Umverteilung zu senken, ist gescheitert", sagt deshalb Marcel Fratzscher, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW. "Es kommt darauf an, den Menschen über bessere Bildungschancen mehr Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen; das ist das Allerwichtigste."

Doch damit tut sich Deutschland schwer. Bildung und sozialer Aufstieg hängen vor allem von Einkommen und Berufen der Eltern ab, die soziale Herkunft entscheidet über den Bildungserfolg. Wer in eine Mittelschichtsfamilie hineingeboren wird und eine gute Ausbildung absolviert, der hat gute Chancen, dass es ihm mindestens so gut gehen wird wie seinen Eltern. Kinder aus armen Familien und solchen mit Migrationshintergrund sind dagegen benachteiligt. Beim Pisa-Test zum Beispiel, der internationale Schulleistungen untersucht, zeigen sich in allen Ländern Unterschiede zwischen den Fähigkeiten sozioökonomisch gut und schlecht gestellter Kinder; in Deutschland ist der Abstand allerdings besonders groß.

Es hakt nicht unbedingt am Geld

Oder wenn man sich ansieht, wer es auf eine Hochschule schafft: Von hundert Kindern mit mindestens einem studierten Elternteil beginnen 74 ein Studium, von denen wiederum 63 einen Bachelor machen, 45 noch einen Master dranhängen und schließlich zehn promovieren. Von hundert Kindern, deren Eltern keine Hochschule besucht haben, beginnen nur 21 ein Studium, schaffen nur 15 einen Bachelor, machen nur acht bis zum Master weiter - und nur eine einzige Person erlangt einen Doktortitel. Die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise ein Kind einer Ärztin später selbst eine gleichwertige Stellung erreicht, ist sehr viel höher als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeiterkind später Anwalt wird. Wenn es um den Zugang zu höherer Bildung geht, ist die Ungleichheit trotz allem Gerede von Chancengerechtigkeit himmelschreiend.

Es hakt gewaltig, aber es hakt nicht unbedingt am Geld. Im Durchschnitt investieren die OECD-Länder von der Grundschule bis zur Universität 5,2 Prozent ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung in Bildung. In Deutschland waren es 2014 - das sind die jüngsten Zahlen - nur 4,3 Prozent. Gemessen an der enormen Wirtschaftskraft des Landes ist das eher beschämend. Betrachtet man allerdings die Ausgaben pro Kopf, sieht es schon besser aus: Hier liegt Deutschland mit 12 063 US-Dollar über dem OECD-Durchschnitt von 10 759 Dollar. Dies gilt jedoch nicht für alle Bildungsbereiche: Während vergleichsweise viel Geld an Hochschulen fließt, wird für Grundschulen relativ wenig ausgegeben.

Was also wäre zu tun? Die wissenschaftliche Forschung legt drei Maßnahmen nahe, mit denen sich mehr Chancengerechtigkeit erreichen ließe. Der erste und wichtigste Punkt sind stärkere Investitionen in frühkindliche und vorschulische Bildung. Je früher Kinder gefördert werden, desto geringer ist am Ende der Schulzeit die Ungleichheit zwischen benachteiligten und bessergestellten Kindern. Es sind gerade die Investitionen in die Drei- bis Sechsjährigen, die einen Bildungsaufstieg ermöglichen - und zwar ganz besonders dann, wenn sie Kindern aus sozial schwachen Schichten zugutekommen. Dies gilt aus dem einfachen Grund, dass sich Lernerfolge potenzieren: Frühes Lernen verbessert den Ertrag des späteren Lernens ganz erheblich. Wenn man Jugendliche erst mit 16 Jahren fördert, dann ist es zu spät. Das Interesse an der Welt und die Sprache müssen beizeiten geweckt werden. Man darf sich nicht einfach auf die Schlauheit, Neugier und Hartnäckigkeit von Kindern verlassen, die im Allgemeinen wenig Lust haben, schon im Sandkasten die Karriere im Auge zu behalten. Es braucht fähige Erzieher und Lehrer, vor allem da, wo ehrgeizige Eltern fehlen.

Der zweite Punkt: Die Forschung zeigt deutlich, dass in Ländern, die ihre Kinder sehr früh auf unterschiedliche Schularten verteilen, später größere Ungleichheit herrscht; dort hängen am Ende der Schulzeit die Leistungen der Schüler stärker vom Elternhaus ab als in Ländern, wo man das später macht. Wird länger gemeinsam gelernt, leistet dies einen wichtigen Beitrag zur Chancengleichheit. Die meisten deutschen Bundesländer trennen die Kinder schon nach der vierten Klasse. "Befürworter dieses Systems sehen in einer möglichen Abkehr den Untergang des Abendlandes. Allerdings: Der Rest des Abendlandes hat ein solches System schon längst nicht mehr", sagt Wößmann. Zwei Drittel der OECD-Länder teilen die Schülerinnen und Schüler erst im Alter von 15 oder 16 Jahren auf unterschiedliche Schularten auf. Die Logik dahinter: Je früher man trennt, umso stärker hängt die Entscheidung von den Eltern ab; die Lehrer hatten ja bloß vier Jahre vormittags Zeit, sich um die Bildung der Kinder zu kümmern. Entscheidet man später, kommt es mehr auf die tatsächlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler an.

Drittens zeigen Studien, dass Länder, die es besser machen als Deutschland, ihre Bildungsausgaben nicht mit der Gießkanne verteilen, wie es hierzulande üblich ist. Sie versuchen vielmehr gezielt benachteiligte Kinder zu fördern. Auch Deutschland sollte bei der Finanzierung der Schulen nicht bloß auf die Zahl der Schüler blicken, sondern deren sozioökonomischen Hintergrund berücksichtigen. So etwas gibt es erst ansatzweise, etwa für Brennpunktschulen, aber nicht systematisch.

Woran mag es liegen, dass trotz der eindeutigen Forschungsergebnisse nichts geschieht? Warum findet eine Politik, die allen Kindern - unabhängig von ihrer sozialen Herkunft - gleichberechtigten Zugang zu Bildung verschafft, keine Mehrheit? Das Versagen der Bildungspolitik hat viel mit Ideologie und hartnäckig vertretenen Partikularinteressen zu tun. Die meisten Menschen finden zusätzliche Bildungsinvestitionen bestimmt gut, solange ihre Kinder davon profitieren. Wenn die Mittel aber gezielt für Kinder von Hartz-IV-Empfängern oder Flüchtlingsfamilien genutzt werden, damit auch sie Anschluss finden, dann ist das Bildungsbürgertum womöglich nicht mehr so begeistert davon. Dabei schwingt die Furcht mit, eine gute Bildung sei nichts mehr wert, wenn jeder sie hätte. Doch wer so denkt, der irrt.

Von einer besseren Bildung jedes Einzelnen profitiert die gesamte Gesellschaft, nicht zuletzt durch geringere Ausgaben für Sozialleistungen und zusätzliche Steuereinnahmen. Sie würde das Wachstum steigern und den Wohlstand fördern - und zwar für alle und nicht nur für wenige.

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