Medizinstudium:Schule des Lebens

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Praktisch veranlagt: das Team der Frankfurter Studentischen Poliklinik. (Foto: oh)

In Frankfurt und Hamburg behandeln Medizinstudenten kostenlos Menschen, die keine Krankenversicherung haben. Eine Win-win-Situation.

Von Daniel Godeck

Es war ein Mann aus Bulgarien, um die fünfzig, der Arda Manap den Unterschied zwischen Lehrbuch und Praxis aufgezeigt hat. Mit mehreren schweren Leiden kam er zu der Medizinstudentin in die Sprechstunde der Studentischen Poliklinik (StuPoli) Frankfurt: Niereninsuffizienz, Herzprobleme, Bluthochdruck und Diabetes. "Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass man so noch leben kann", erinnert sich Manap. Doch der Mann lebt und kommt bis heute regelmäßig in die kostenlose Sprechstunde, die Medizinstudenten im Rahmen ihres Studiums für Menschen ohne Krankenversicherung anbieten.

Die Wurzeln der StuPoli liegen in den USA, wo viele medizinische Fakultäten über eine Student Run Free Clinic verfügen. Die Idee: Studierende sammeln Erfahrungen in der medizinischen Praxis, bedürftige Menschen erhalten gratis eine ärztliche Versorgung. Eine Win-win-Situation. In Frankfurt läuft die Sprechstunde, die als Lehrveranstaltung und Wahlfach in der Studienordnung verankert ist, seit Juni 2014. Mit Erfolg: Zu der wöchentlichen Sprechstunde ist wegen der guten Nachfrage ein zweiter Termin hinzugekommen.

Zu dem zehn- bis 15-köpfigen Organisationsteam gehört auch Arda Manap. Die 25-Jährige studiert im bald zehnten Fachsemester an der Goethe-Universität und steht kurz vor ihrem zweiten Staatsexamen. In der StuPoli-Sprechstunde, die im städtischen Gesundheitsamt stattfindet, engagiert sie sich seit zweieinhalb Jahren. Nur: Lernt sie nicht bereits im übrigen Studium, mit Stethoskop und Spritze umzugehen? Immerhin gibt es klinische Semester und am Ende ein praktisches Jahr.

Die Studenten untersuchen und stellen die Diagnosen, ein Arzt unterstützt und entscheidet

Das schon, sagt Manap. Doch in der Sprechstunde könne sie viel stärker in die Rolle des Arztes schlüpfen - unter realistischen Bedingungen. In den beiden Behandlungszimmern der StuPoli sitzen jeweils zwei Studierende - einer jüngeren Semesters, einer mit mehr Erfahrung. Das letzte Wort hat zwar immer der betreuende Arzt, doch das Behandlungsgespräch mit dem Patienten führen die Studenten. Sie messen Blutdruck, begutachten Verletzungen und stellen Diagnosen. "Und wenn wir Fragen haben, wenden wir uns an den Arzt."

Die StuPoli ermöglicht den Nachwuchsärzten, ihr medizinisches Wissen zu differenzieren. Etwa, wenn es um die richtige Dosierung eines Mittels gegen Diabetes geht. "Wir lernen zwar im Studium, welche Medikamente wir wann einsetzen müssen", sagt Manap, die passende Dosis richte sich aber immer nach dem Einzelfall. Bei dem bulgarischen Patienten etwa muss wegen seines zusätzlichen Nierenleidens das Diabetesmedikament besonders vorsichtig dosiert werden.

Studenten ab dem fünften Semester bekommen es in der Sprechstunde zudem mit Aufgaben zu tun, die im Studium erst später thematisiert werden, beispielsweise, wie man eine Schwangerschaftsuntersuchung durchführt. Auch kleine Hilfestellungen, die an der Uni kaum gelehrt werden, etwa einem Patienten den Gebrauch eines Asthmasprays zu erklären, werden hier abgerufen. Außerdem sensibilisiere die Bedürftigkeit der Patienten die Studenten für die Not Schwächerer, sagt Manap.

Seit Langem wird das Medizinstudium als zu theorielastig kritisiert. Bund und Länder wollen deshalb mit ihrem vor einem Jahr beschlossenen Masterplan Medizinstudium 2020 auch den Praxisbezug stärken. Obwohl der in den vergangenen Jahren schon zugenommen habe, "ist noch viel Luft nach oben", sagt Moritz Völker, bis vor Kurzem Vorsitzender der Medizinstudierenden im Hartmannbund. Er bemängelt insbesondere den seltenen Patientenkontakt und die Statistenrolle, die Studenten in klinischen Semestern meist zugewiesen werde. Das Nähen von Wunden an einem Schweinefuß zu üben, sei anfangs hilfreich, doch beim echten Patienten eben etwas ganz anderes. Dementsprechend sieht Völker die StuPoli als "super Sache" an.

Die studentische Klinik kooperiert mit einem Förderverein für Roma, ein Großteil der Patienten stammt deshalb aus dieser Bevölkerungsgruppe. Viele haben keine reguläre Arbeit und keine Krankenversicherung. Die Palette der Krankheiten gleicht der einer Hausarztpraxis: Von Erkältungen über Rückenschmerzen bis hin zu ernsthaften Herzleiden sind die Studenten mit allem konfrontiert. Aber nicht immer kann die medizinische Sprechstunde alle Probleme lösen. "Wenn jemand auf der Straße lebt und sich regelmäßig Insulin spritzen muss, ist das ein Problem", sagt Manap. Deshalb arbeiten die Frankfurter Jungmediziner zusätzlich eng mit einer Sozialarbeiterin zusammen.

Ende Februar hat in Hamburg eine zweite StuPoli die Pforten geöffnet. Auf dem Gelände des einstigen Hafenkrankenhauses in St. Pauli bieten 20 Medizinstudenten jeden Freitag eine kostenlose Sprechstunde an.

© SZ vom 19.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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