Inklusion an Schulen:"Viele Eltern sind verzweifelt"

Inklusion: Rollstuhl auf einem Schulgang

Inklusion ist eine komplexe Aufgabe für das deutsche Schulwesen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Trotz Behindertenrechtskonvention ist es für viele Kinder mit Förderbedarf schwer, einen Platz an einer Regelschule zu bekommen. Anwalt Felix Winkler über ein kompliziertes Gesetz.

Interview von Matthias Kohlmaier

Eine Kleine Anfrage der Grünen an die Bundesregierung hat gezeigt, dass die Zahl der Förderschüler in Deutschland trotz aller vordergründiger Bemühungen um Inklusion nur sehr langsam zurückgeht. Rechtsanwalt Felix Winkler hat häufig mit Eltern zu tun, die für ihr Kind gegen den Willen der zuständigen Behörden einen Platz in einer Regelschule erkämpfen wollen.

SZ: Herr Winkler, wird Inklusion an Nordrhein-Westfalens Schulen gelebt?

Felix Winkler: An vielen bestimmt, aber es gibt auch genug Regelschulen, die lieber keine Kinder mit besonderem Förderbedarf in ihren Klassenzimmern haben wollen. Durch die Behindertenrechtskonvention steht der Elternwille bei der Schulwahl aber eigentlich im Vordergrund. Danach müssten sich die Schulämter in der Theorie auch richten.

Wie sieht es in der Praxis aus?

Die Schulgesetze sehen Ausnahmen vor. Das bedeutet letztendlich, dass nicht zwingend die Eltern darüber entscheiden können, ob ihr Kind eine Regelschule oder eine Förderschule besucht. Wenn die Schulaufsichtsbehörden sich auf die im Gesetz festgeschriebene Ausnahmeregelung berufen, dann treffen sie diese Entscheidung. Ich halte diese Gesetzgebung für schwierig.

Interview am Morgen

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Wie wird denn festgestellt, ob ein Kind speziell gefördert werden muss?

Gewöhnlich leitet die Schule ein Verfahren ein, mit dem herausgefunden werden soll, ob überhaupt ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt. Dafür werden zwei Gutachter berufen, das sind gewöhnlich die Klassenlehrkraft und ein Sonderpädagoge. Die schreiben in ihrem Gutachten auf, ob Förderbedarf vorliegt und wenn ja, welchen Förderschwerpunkt und Förderort sie für das Kind für richtig erachten. Außerdem legen sie fest, ob das Kind zielgleich, also im Regelbildungsgang, oder zieldifferent, in einem eigenen Bildungsgang, gefördert werden sollte. Das Schulamt bestimmt dann abschließend über diese Punkte.

Eigentlich haben alle Kinder das Recht auf einen Platz an einer Regelschule. Wann dürfen die Behörden sich auf die genannte Ausnahme berufen?

Wenn sie der Meinung sind, dass es unmöglich ist, das Kind in den Unterricht an einer Regelschule zu integrieren. Ist das so, haben die Eltern kein großes Mitspracherecht mehr und können sich nur noch mit einer Klage gegen den abschließenden Bescheid der Schulaufsichtsbehörde wehren.

Solche Fälle landen also bei Ihnen.

Das ist definitiv die Situation in der ganzen Inklusionsthematik, mit der ich mich am häufigsten juristisch beschäftige. Viele Eltern wollen den festgestellten Förderbedarf und/oder Förderort anfechten und sich damit quasi die Entscheidung, wie ihr Kind beschult wird und auf welche Schule es gehen darf, zurückholen. Andere Eltern wiederum erkennen an, dass ihr Kind förderbedürftig ist, wollen es aber unbedingt an eine Regelschule bringen.

Wie erleben Sie Eltern, die ihr Kind an eine Regelschule klagen wollen?

Viele sind verzweifelt und enttäuscht. Sie sagen: "Wir kennen unser Kind doch am besten. Warum schreibt uns jemand vor, auf welche Schule es gehen sollte?" Das Problem ist, dass der Schulaufsichtsbeamte, der über den Förderbedarf entscheidet, das Kind nicht kennengelernt hat. Er entscheidet im Wesentlichen alleine aufgrund des Gutachtens, das Klassenlehrkraft und Sonderpädagoge erstellt haben. Bei Bedarf kann er zusätzlich ein schulärztliches Gutachten anfordern. Dann lädt er die Eltern zum Gespräch und entscheidet danach über die Zukunft eines Kindes, das er nie gesehen hat. Diesen - wenig elternfreundlichen - Ablauf den Erziehungsberechtigten zu erklären, ist manchmal schwierig.

Dr. Felix Winkler

Der Kölner Rechtsanwalt Felix Winkler hat sich schon in seiner Promotion mit Rechtsproblemen beim Verfahren zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf beschäftigt.

(Foto: Inga Geiser; Inga Geiser)

Fühlen sich Betroffene von den Schulen alleingelassen?

Auf jeden Fall. Bei vielen Fällen habe ich nach der Lektüre der sonderpädagogischen Gutachten auch wirklich das Gefühl, dass die jeweilige Schule das Kind einfach loswerden will. Da werden Dinge als problematisch aufgeführt - das Mädchen hat andere Kinder geschubst, der Junge beleidigt seine Mitschüler - die jedes Kind in der Schule irgendwann mal macht.

Was raten Sie Eltern, die mit derlei Fällen zu Ihnen kommen?

Sie sollten keinesfalls den Antrag auf Eröffnung eines Verfahrens zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf unterschreiben - dessen Folgen können erheblich sein. Einige Schulen versuchen leider, oft mit Fehlinformationen, den Eltern so einen Antrag unterzujubeln. Denn wenn er von den Eltern kommt, muss die Schule sich hinterher nicht mehr so sehr anstrengen und einen Ausnahmefall kreieren. Der ist aber erforderlich, wenn die Schule selbst, also ohne die Unterschrift der Eltern, ein Förderbedarfsverfahren eröffnen will. Ich rate daher: Nichts unterschreiben, was Sie nicht vorher in Ruhe gelesen und vielleicht auch zu Hause mit Freunden oder einem Anwalt besprochen haben.

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